Appell der Wiener Betreuerin, die ihre wohl integrierte Familie verloren hat


Der 13-jährige Njteh und seine Familie wurden letzten Mittwoch, 5. Oktober, festgenommen und Freitag nach Zagreb abgeschoben. Wir veröffentlichen den Appell ihrer Betreuerin in Wien-Liesing, Ruth Lesigang.

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Liebe Freunde, liebe am Schicksal der Familie Interessierte, liebe Medienvertreter, liebe Alle,

Familie Grboyian, die syrisch-christliche Familie, die seit Ende November 2015 in unserer Wohnung in der Pfarre Erlöserkirche im 23. Bezirk untergebracht ist, befindet sich nun in einem Lager in Zagreb.

Chronologie der Ereignisse:

Die Familie stammt aus Aleppo, trat im November die Flucht aus der umkämpften Stadt an. Ich möchte hier auch nichts von all den schrecklichen Erlebnisse schildern, die ich im Laufe der Zeit von meiner Familie erfahren habe. Zu den täglichen Bildern von der Zerstörung, den Bomben, den Toten muss ich hier nichts hinzufügen.

Vater Artin, Sohn Njteh (13 Jahre) und Tochter Lucy (25 Jahre) mussten ihre Mutter zurücklassen, da sie aus gesundheitlichen Gründen die gefährliche Flucht nicht auf sich nehmen konnte. Sie kamen über Griechenland, wo ihnen die Fingerabdrücke abgenommen wurden und der Balkanroute nach Österreich. In Kroatien und Slowenien wurden sie von den Behörden schnell in das nächste Land gebracht – sie wurden weder registriert noch wurden Fingerabdrücke genommen. Diese Länder hatten (und haben) kein Interesse an Flüchtlingen.

In Österreich angekommen stellten sie einen Antrag auf Asyl, gaben bei der Befragung ehrlich an, wie sie zu uns gelangt sind – nämlich unter anderem durch Slowenien und Kroatien. Daraufhin wurde ihnen mitgeteilt, dass bei ihnen das Dublin III Verfahren anzuwenden sei, d.h. die österreichische Asylbehörde hat zu prüfen, ob nicht diese beiden Länder für das Asylverfahren zuständig wären (nach Griechenland darf nach geltender Rechtsprechung nicht zurückgeschoben werden).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fragte offiziell in Slowenien und Kroatien nach, ob sie sich für zuständig erachten. Wie in diesen Fällen offensichtlich üblich, lehnte Slowenien die Zuständigkeit ab, Kroatien „verschwieg“ sich. Das bedeutet, dass dieses Land innerhalb von drei Monaten ab Anfrage keine Rückmeldung gegeben hat. Daher wurde Kroatien nach der Dublin III Verordnung zuständig. Da auch sonst keine Gründe durch das Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen gefunden wurden, die eine Zuständigkeit Österreichs begründet hätten, erging Ende Juli der Bescheid, der die Außerlandesbringung unserer Familie anordnete. Unter anderem stellte die Behörde fest, dass es zu keiner Integrationsverfestigung gekommen wäre.

Gegen diesen Bescheid wurde mit Hilfe der Caritas Rechtsberatung eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingebracht mit der Anregung auf aufschiebende Wirkung des angefochtenen Bescheids. Diese aufschiebende Wirkung tritt aber nur in Kraft, wenn der Richter innerhalb von acht Tagen diese erteilt. Das bedeutet, dass durch „Verschweigen“ des Richters, die Frist verstreichen kann ohne dass er/sie begründen müsste, warum die aufschiebende Wirkung nicht zuerkannt wird.

Damit wussten wir alle ab Anfang August, dass jederzeit die Polizei kommen könnte und die Familie holen würde. Und das obwohl noch keine Entscheidung durch das Bundesverwaltungsgericht ergangen ist. Diese Entscheidung ist auch nach wie vor ausständig.

Alle drei Familienmitglieder waren eng in unserer Pfarrgemeinde integriert. Der Vater – er besaß eine Fabrik für T-Shirts in Aleppo – half beim Sortieren der Flohmarktartikel, die Tochter gab Flüchtlingskindern aus Syrien Nachhilfeunterricht – sie ist ausgebildete Englischdolmetscherin, der 13-jährige Sohn besuchte die dritte Klasse eines Gymnasiums im 23. Bezirk. Wir könnten noch unzählige Aktivitäten und Freundschaften, die entstanden sind, aufzählen, es würde hier den Rahmen sprengen.

Viele liebe Menschen haben sich um diese Familie bemüht, was nicht schwer fiel, da man sie sofort ins Herz schließen muss. Die Pfarre unterstützte finanziell die Deutschkurse der Familie – als Nicht-Asylberechtigte gibt es darauf ja keinen Anspruch. Der Bub sprach durch seinen Besuch und die Integration in der Schule schon sehr gut Deutsch, die Tochter beispielsweise stand kurz vor der Ablegung der B1-Prüfung.

Alle hofften wir auf die positive Erledigung beim Bundesverwaltungsgericht. Mittwoch letzter Woche um 6.30 Uhr früh stand dann die Polizei vor der Tür und führte die drei Menschen ab. Mit Blaulicht wurden sie in die Zinnergasse nach Simmering gebracht, wir durften sie ein einziges Mal 20 Minuten sehen – die Zinnergasse wurde von der diensthabenden Polizistin als „Strafgefangenenhaus“ bezeichnet und diese Bezeichnung entsprach dem, wie wir es empfunden haben. Jedes Stockwerk war mit Gittern versperrt, Polizisten mit Maschinengewehr standen herum, die Handys wurde unserer Familie abgenommen, sie hatte keine Kontakt nach draußen.

Am Freitag wurde unsere Familie dann außer Landes gebracht, mit dem Flugzeug nach Zagreb. Dort, im Auffanglager, herrschen katastrophale Verhältnisse, wie wir von verschiedensten NGOs und auch von einem dort tätigen Jesuitenpater und der Familie selbst erfahren mussten. Es gibt keine Sicherheitskräfte, gäbe es keine NGOs und Freiwillige, wären diese abgeschobenen Menschen sich selbst überlassen. Lucy, mit der ich – in Kroatien erhielt sie ihr Handy wieder zurück – über Whatsapp in Kontakt bin, schildert mir von Übergriffen und Zuständen, die bei einem Verbleiben für sie gefährlich wären.

Die kroatischen Behörden drängen offensichtlich sehr, dass die Zurückgeschobenen – die meisten aus Österreich – einen Asylantrag stellen. So hatte unsere Familie heute um 9 Uhr das „Interview“ zur Antragstellung. Von Seiten der von uns organisierten Asylanwältin wurde der Familie geraten, einen Asylantrag zu stellen. Sie wollte ihnen als Rechtsbeistand beim Interview zur Seite stehen, was aber von der Behörde verboten wurde. Würden sie keinen Asylantrag stellen, dürften Sie das Lager nicht verlassen – sich also einer weiteren Gefährdung aussetzen.

Da wir eine Möglichkeit gefunden haben, die Familie in einer sicheren Umgebung unterzubringen, blieb unserer Familie nichts übrig, als diesem Rat zu folgen. Und das, obwohl das Verfahren in Österreich noch gar nicht entschieden ist – was das nun für eine Auswirkung auf die österreichische Entscheidung hat, muss erst herausgefunden werden.

Der kroatische Staat ist mit der Aufnahme von Flüchtlingen heillos überfordert. Das Asylwesen steckt noch in den Anfängen. In der Regel werden Asylanträge selbst von Menschen, die aus Kriegsgebieten wie Aleppo kommen, abgewiesen. Finanzielle Unterstützung ist nicht vorhanden.

Ich – und da bin ich wohl nicht allein – bin entsetzt, dass der österreichische Staat erlaubt, Menschen, die durch Krieg und Flucht traumatisiert wurden, einer solchen Gefährdung und menschenverachtenden Situation auszusetzen. Ich appelliere an alle, die sich dafür einsetzen können und wollen, diesen Text weiterzuleiten. Es geht um Menschen, die nichts sehnlicher wollen, als endlich Frieden zu finden. Einen Frieden, den sie geglaubt haben, in Österreich zu haben, um dann wieder den Glauben an Menschlichkeit zu verlieren.

Ich appelliere an die Politiker, zumindest in diesem Fall nicht auf die Quote zu schauen – ich weiß schon, die 37.500 Asylanträge könnten bald erreicht sein, und meine Familie wäre auch in dieser Statistik berücksichtigt worden. Handeln Sie menschlich, dass meine Kinder wieder an Gerechtigkeit und Menschlichkeit glauben können.

Ihre/Eure
Ruth Lesigang