Katrin Glatz-Brubakk arbeitet als Kinderpsychologin für Ärzte ohne Grenzen auf der griechischen Insel Lesbos. Im Interview mit dem ZDF schildert sie die katastrophale Situation für die Kinder im neuen Lager Kara Tepe, das nach dem Brand von Moria errichtet wurde. Wir geben ihre dramatischen Schilderungen wider und fordern erneut und mit Nachdruck die sofortige Evakuierung der Lager und Aufnahme von Menschen in Österreich. Die Regierung muss uns endlich helfen lassen!
„Bei manchen Kindern führt das dazu, dass sie die Hoffnung ganz aufgeben. Sie ziehen sich zurück. Sie hören auf zu spielen. Und wenn sie nicht mehr spielen hört einfach die Entwicklung ganz auf. Es gibt Kinder, die haben seit acht Monaten kein einziges Wort gesprochen. Sie gehen nicht aus dem Zelt, sind total apathisch. Manche müssen gefüttert werden, weil sie einfach keine Kraft und Lebenslust mehr haben. Und bei manchen kommt es dazu, dass sie versuchen, sich das Leben zu nehmen.
Manchmal hat man das Gefühl, dass man eine Brandwunde pflastert, während die Menschen immer noch im Feuer stehen. Dadurch, dass wir sie eigentlich jeden Tag wieder zurückschicken müssen in Bedingungen, die sie krank machen, das ist schon verzweifelnd. Und das begrenzt die Möglichkeit, wie viel wir machen können.
Wir versuchen, die Kraft, die sie einmal hatten, wieder hervorzuholen. Und wir reden auch von Träumen: Was sie einmal werden möchten, wie sie das früher in der Schule gemacht haben und dass sie das wieder machen können. Manche müssen wir einfach daran erinnern, dass keiner für ewig in Moria lebt, Gott sei Dank.
Was wir wissen, was traumatisierte Kinder brauchen, ist eben das Gefühl, dass ich jetzt sicher bin. Vorrausichtbarkeit. Struktur. Und all dieses gibt es in Moria überhaupt nicht. Bei Kleinkindern führt es dazu, dass sie manchmal anfangen, sich die Haare auszureißen, den Kopf gegen Fußboden oder Wand zu knallen, sich beißen bis sie bluten, weil sie einfach nicht wissen, wohin mit der Unruhe.
Der Teil des Gehirns, der für gute Entwicklung sorgt, dass man gute Entscheidungen treffen, lernen, gute Relationen bauen, sich beruhigen, Gefühle kontrollieren, sich konzentrieren kann – all diese Teile bekommen nicht genug Energie, um sich gesund zu entwickeln. Mit jedem Tag, den sie hier im Lager sind, wird der Schaden größer und die Probleme, die sie in der Zukunft haben werden. Das sind jetzt Narben, die nie wieder richtig heilen werden können.
Kinder erzählen uns, dass sie so wenig wie möglich essen und trinken, weil es ihnen ekelt, zur Toilette zu gehen. Im Dezember wurde auch ein kleines Mädchen von drei Jahren in der Toilette vergewaltigt und die Kinder fürchten sich natürlich, dass sie als nächstes dran sind.
Die Flüchtlinge dürfen jetzt nur drei Stunden Woche aus dem Lager raus. Das heißt, sie verbringen den ganzen Tag, die ganze Woche in den Zelten hinter Stacheldraht und mit Polizeibewachung.
Für die Menschen im Lager geht es nicht nur darum, wann ich nicht mehr zu Hause sitzen muss und zum Arbeiten und meine Kollegen treffen darf, sondern: Wann fängt mein Leben an? Gibt es für mich überhaupt noch eine Zukunft? Wann darf ich wieder zur Schule gehen? Wann darf ich lernen? Wann kann ich aus dem Zelt raus, ohne mich nachts fürchten zu müssen? Und wenn wir das schon merken, wie schwer das ist, mit dieser Unsicherheit zu leben, muss man sich einmal vorstellen, wie schwierig es für die Menschen ist, die im Lager leben.“