ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz bezichtigte Menschen mit Migrationsbiografie, sie wären für die hohen Ansteckungszahlen im Herbst verantwortlich. „Das ist rassistische Rhetorik von der Regierungsspitze abwärts“, sagt die Wiener Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien im Interview mit Judith Ranftler. Und das ist brandgefährlich: „Die Grenze des Sagbaren verschiebt sich schnell, wenn der Bundeskanzler unwidersprochen bleibt. Das erinnert an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte, die wir eigentlich nie wieder beschreiten wollten.“ Ein Gespräch über Rassismus, soziale Klassen und darüber, was wir dem herrschenden Diskurs entgegensetzen können.
Judith Ranftler: SOS Mitmensch warf dem türkisen Kanzler Sebastian Kurz „Sündenbockpolitik“ vor, sogar die bürgerliche Presse schrieb, es gehe hier „um den Aufbau von Sündenböcken“. Warum denkst du, behauptete Kurz zuletzt, dass „insbesondere Menschen, die in ihren Herkunftsländern den Sommer verbracht haben, uns Ansteckungen wieder ins Land hereingeschleppt“ hätten? Immerhin ein Lüge, wie wir wissen: mindestens 85 Prozent der Infektionen kamen im fraglichen Zeitraum in Österreich und durch österreichische Urlauber_innen zustande.
Judith Kohlenberger: Wir befinden uns offenbar in der Talsohle der Krisenbewältigung. Im März gab es untereinander noch viel Solidarität, jetzt hat das Pendel in die andere Richtung ausgeschlagen. Aus der Geschichte wissen wir, dass in Zeiten eines Wirtschaftsabschwungs die Diskriminierung gegenüber vermeintlich Fremden am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft stark zunimmt.
Wir sehen nun leider rassistische Rhetorik von der Regierungsspitze abwärts. Es besteht die Gefahr, dass sich das Narrativ in der Gesellschaft durchsetzt, die migrantische Bevölkerung sei für die zweite, extrem starke Coronawelle verantwortlich. Zugleich lenkt man dadurch natürlich auch von strukturellen und politischen Ursachen ab.
Wir wissen leider, dass es bei diesen großen Erzählungen nie bei bloßen Worten bleibt, sondern sie auch immer zu konkreten Handlungen führen. Welche Gefahren siehst du?
Anhand der Arbeitsmarktdaten sehen wir, dass die coronabedingte Arbeitslosigkeit ausländische und zugewanderte Beschäftigte bereits wesentlich heftiger trifft als inländische. Das hat einerseits strukturelle Gründe: Migrant_innen sind in Branchen wie Tourismus und Gastronomie, die massiv von den Corona-Einschränkungen betroffen sind, überrepräsentiert. Es hängt aber auch mit dem Arbeitsmarktprinzip „Last in – First out“ zusammen: Jene, die zuletzt hinzugekommen sind, werden auch schneller wieder entlassen. Migrant_innen haben oft eine kürzere Betriebszugehörigkeit.
Aber selbst wenn man all diese Faktoren mit einbezieht, bleibt ein gewisser Teil übrig, der sich nur über die Diskriminierung am Arbeitsmarkt erklären lässt. Man baut die vermeintlich Fremden eher ab und ermöglicht ihnen weniger oft Kurzarbeit als inländischen Arbeitskräften. Wir sehen einen mehr als doppelt so hohen Rückgang der Erwerbsquote bei ausländischen Staatsbürger_innen wie bei österreichischen. Bei Menschen, die nicht in Österreich geboren sind, aber hier arbeiten, ist der Rückgang sogar fast drei Mal so stark wie bei hier Geborenen.
Gesamtgesellschaftlich haben wir nach dem Terroranschlag eine schwierige Gemengelage. Rassistische verbale und physische Übergriffe haben stark zugenommen. Vor allem Frauen mit Kopftuch werden angefeindet. All das sind Symptome einer steigenden Fremdenfeindlichkeit im Land. Die Grenze des Sagbaren verschiebt sich schnell, wenn der Bundeskanzler öffentlich sagen kann, das Virus wäre „eingeschleppt“ worden, und er unwidersprochen bleibt. Das erinnert an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte, die wir eigentlich nie wieder beschreiten wollten.
Zuletzt berichtete der Intensivmediziner Burkhard Gustorff in der Klinik Ottakring in einem Interview in Die Presse, dass 60 Prozent seiner Patient_innen Migranten wären. Sind Menschen mit Migrationsbiografie tatsächlich häufiger von Corona-Infektionen betroffen?
Aus der Sicht einer Kulturwissenschafterin war das Gespräch von einem gewissen Klassizismus in Verbindung mit der Ethnisierung der Patient_innen durchzogen. Die Erklärung der Ursachen des höheren Infektionsrisikos war zwar teils richtig, aber lückenhaft. Interessant fand ich, und dass ist auch mir erst später bewusst geworden, dass nicht nur viele der angesprochenen Patient_innen Migrationshintergrund haben, auch der interviewte Intensivmediziner ist Migrant – er kommt aus Deutschland. Das zeigt deutlich den Unterschied auf, den wir häufig im Alltag machen: Wen meinen wir in Österreich, wenn wir „Migrant“ sagen? Nicht die Deutschen, die aber die größte Gruppe der Ausländer_innen darstellen. Es geht uns also oft gar nicht so sehr um die ausländische Herkunft, sondern um die Klasse, um den sozioökonomischen Hintergrund.
In Österreich gibt es kaum Daten über ein höheres Infektionsgeschehen nach Herkunft der Erkrankten. Zahlen, wie viele Menschen mit und ohne Migrationshintergrund an COVID-19 erkranken, werden nicht erhoben. Inzwischen zeigen allerdings belastbare Daten aus zahlreichen anderen OECD-Ländern, womit ich von Beginn der Krise an gerechnet habe: dass Migrant_innen tatsächlich stärker von Corona betroffen sind. Studien belegen, dass das Infektionsrisiko für Migrant_innen doppelt so hoch ist. Auch die Gefahr eines schwereren Krankheitsverlaufs und die Sterblichkeit an COVID-19 sind höher.
Das hat vor allem sozioökonomische Ursachen. Einerseits, weil Migrant_innen häufiger in den sogenannten „systemerhaltenden Berufen“ wie in Reinigungs- und Lieferdiensten, im Supermarkt und in der Pflege tätig und dadurch einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind, während Menschen ohne Migrationshintergrund öfter im Home Office arbeiten können. Andererseits korreliert der sozioökonomische Hintergrund stark mit der Gesundheit. Reiche sind statistisch gesehen gesünder.
Hier kommt der Migrationshintergrund ins Spiel: Aufgrund des schwierigeren sozialen Aufstiegs, der hohen Bildungsvererbung und anderer struktureller Faktoren bedeutet Migrationshintergrund in Österreich meistens, dass man aus einer sozioökonomisch niedrigeren Schicht stammt und ein niedrigeres Einkommen hat. Das wiederum bedeutet statistisch gesehen einen schlechteren Gesundheitszustand. Nicht, weil ärmere Menschen ungesünder leben, sich zu wenig bewegen oder nicht „Bio“ einkaufen. Es ist eine Ressourcenfrage: Es geht um Zeit- und Geldmangel, der einen davon abhält, präventiv etwas für die eigene Gesundheit tun zu können. Um chronischen Stress, dem man vor allem durch unsichere Arbeitsverhältnisse und Arbeitslosigkeit ausgesetzt ist. Und um viele weitere, ineinander verschränkte Faktoren, die in der Medizinsoziologie vielfach nachgewiesen wurden. Diese Gründe führen dazu, dass Migrant_innen stärker von COVID-19 betroffen sind.
In den Vereinigten Staaten konnte schon früh nachgewiesen werden, dass schwarze Menschen häufiger an Corona erkrankten als weiße. Auch daran sieht man, dass offenbar nicht die Herkunft, sondern die sozioökonomische Struktur entscheidend ist, und welcher Status sozialen Gruppen in einer Gesellschaft zugeschrieben wird. Dahinter steht struktureller Rassismus auf den unterschiedlichsten Ebenen.
Du sagst damit, Rassismus wird auf einer sozioökonomischen Basis, die eine Klassenstruktur aufweist, ausgeübt.
Richtig. Die soziale Ungleichheit in unserem Land sorgt dafür, dass auch das Infektionsrisiko ungleich verteilt ist. Die Ungleichverteilung des Kapitals bedingt eine Ungleichverteilung von Bildung, von Erwerbschancen, von Gesundheit. Eine Studie in Deutschland, die gut auf Österreich umlegbar ist, wies nach, dass das unterste Fünftel der Bevölkerung ein doppeltes bis dreifaches Risiko trägt, eine chronische Erkrankung, Asthma, Krebs und Diabetes zu haben, als das oberste Fünftel – also genau die gefährlichen Vorerkrankungen für COVID-19 (vergleichbare Zahlen für Österreich liefert das Gesundheitsministerium in der Gesundheitsbefragung 2019, Anm.).
Ich möchte abschließend noch einmal auf die große Erzählung zurückkommen. Wir können wir diese Diskursverschiebung wieder in eine andere Richtung bewegen?
Wir benötigen eine andere Konzeption des „Wir“. Momentan sehen wir eine Spaltung in das Wir und „die Anderen“, wobei diese Anderen noch fremder gemacht werden, als sie eigentlich sind. Indem man ihnen zuschreibt, sie wären der deutschen Sprache nicht mächtig oder zu sorglos, sodass sie die Corona-Maßnahmen nicht richtig mittragen. In der Kulturwissenschaft wird das als „Othering“, als „Andersmachen“ bezeichnet. Ein Konzept, das ursprünglich auf den postkolonialen Kontext angewandt wurde.
Wenn wir hierzulande „Wir“ sagen, meinen wir bestimmte Gruppen gar nicht mehr mit. Historisch war dieses Wir noch viel enger gefasst, jahrhundertelang waren Frauen, Homosexuelle und zahlreiche andere Menschen nicht mit gemeint. Progressive Politik hat dieses Wir, nicht nur in Österreich sondern global, nach und nach erweitert. Das Wir ist allerdings immer noch stark umkämpft, etwa im Bereich politischer Partizipation in Form des Wahlrechts. Eine Gegenposition könnte sein, dieses Wir sprachlich und handelnd breit zu fassen und sich die Trennung zwischen dem Wir und dem Anderen immer bewusst zu machen. Unterschiede aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft oder Religion bestehen natürlich, aber daraus darf man nicht ableiten, „andere“ Menschen wären minderwertig, oder „wir“ wären höhergestellt.
In Coronazeiten ist es das Beispiel schlechthin geworden: Sprechen Politiker_innen „Österreicherinnen und Österreicher“ an oder „alle Menschen, die in diesem Land leben“. Das ist, zumindest auf der symbolischen Ebene, ein Zeichen, dass man das Wir breiter und inklusiver fasst.
Judith Kohlenberger forscht und lehrt am Institut für Sozialpolitik an der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie ist Kulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt auf Identitäts-und Repräsentationspolitik. Seit Herbst 2015 arbeitet sie zu Fluchtmigration und Integration. Judith ist Mitbegründerin der Initiative Courage – Mut zur Menschlichkeit, die sich für die Aufnahme von Geflüchteten aus Moria einsetzt.
Das Interview führte Judith Ranftler. Sie arbeitet in der Volkshilfe Österreich in den Bereichen Asyl und Migration, Kinder und Jugend, und leitet das Projekt Kinderarmut abschaffen. Judith ist im Vorstand der Asylkoordination Österreich sowie aktiv in der Kampagne FairLassen. Sie ist nebenberuflich Lehrende am FH Campus Wien im Studiengang Soziale Arbeit.