Die EU-Kommission hat einen neuen Migrationspakt vorgeschlagen. Judith Ranftler hat mit Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien über die Gefahr weiterer Morias, die Lösung der Asylfrage auf europäischer Ebene und die Rolle Österreichs darin gesprochen.
Judith Ranftler: Wo würden Sie die zwei größten Kritikpunkte am neuen Migrationspakt, den die EU-Kommission vorgeschlagen hat, sehen?
Judith Kohlenberger: Der erste Kritikpunkt sind sicherlich die Vorverfahren, die in Mitgliedsstaaten mit EU-Außengrenzen durchgeführt werden. Potenzielle Asylwerbende aus Ländern mit einer zwanzigprozentigen Asylzuerkennungsquote oder weniger (es ist auch die Frage, woraus sich der Wert überhaupt zusammensetzt) können, bevor sie in einem Regulärverfahren einen Asylantrag stellen dürfen, in diesem Vorverfahren schnell abgewickelt werden. Ich sehe ganz stark die Gefahr, dass man hier sehr rasch und sehr grobmaschig entscheidet, sodass viele Menschen, die vielleicht doch Schutzgründe hätten, durch das Netz fallen und in vermeintlich sichere Drittstaaten abgeschoben werden. Diese Vorverfahren höhlen meines Erachtens nach den Zugang zum Recht auf Asyl aus.
Den zweiten Kritikpunkt würde ich darin sehen, dass es im Grunde keine wirkliche Lastenverteilung weg von den EU-Mitgliedsstaaten mit Außengrenzen gibt. Das war aber eine Intention des Pakts, unter anderem durch das Modell der „flexiblen Solidarität“. Tatsächlich wurden aber sehr viele Instrumente geschaffen, wie eben Vorverfahren, verpflichtende Screenings, darunter Identitätsfeststellungen und Gesundheitsscreenings, und eine Aufstockung des gesamten Grenzmanagements durch Frontex, die in den Ländern mit Außengrenzen durchgeführt werden müssen. Deren Entlastung steht zwar am Papier, aber de facto müssen sie wieder sehr viel schultern.
Wäre Ihre Einschätzung, dass es dann durch dieses neue System mehrere Morias, jetzt als Beispiel für diese Lager, geben könnte?
Ja, diese Gefahr sehe ich durchaus. Der Hauptgrund dafür, auch auf einer allgemeinen Ebene betrachtet, ist, dass der Pakt im Grunde überhaupt nichts zu legalen Fluchtmöglichkeiten enthält. Man fokussiert sich auf Grenzmanagement, Abschottung und Abschreckung. Womit man aber Schlepperei viel effektiver bekämpfen könnte, wäre, legale Fluchtmöglichkeiten zu schaffen. Denn die Fluchtursachen bestehen ja weiter. Wir haben weiterhin viele Krisenherde auf dieser Welt, wo Menschen politisch oder aus anderen Gründen verfolgt werden.
Wir wissen, dass das auf EU-Ebene nicht der erste Versuch ist, eine europaweite Lösung zu finden. Bislang ist es ein jahrelanger Prozess ohne Einigung. Was wären aus Ihrer Sicht Alternativen? Wie könnte es gelingen, ein anderes System zu etablieren?
Ich glaube, man muss sich auf EU-Ebene mehrere grundsätzliche Fragen stellen. Denn was man jetzt durch die Hintertür gemacht hat, höhlt entscheidende Menschenrechte aus. Es droht die Gefahr, dass das Recht auf Asyl nur mehr auf dem Papier besteht, weil schutzsuchende Menschen gar nicht mehr die Möglichkeit haben, in den Genuss dieses Rechts zu kommen. Man müsste sich wahrscheinlich ehrlich die Frage stellen: Was ist das Wertefundament Europas? Und gleichzeitig die Reflexion nach innen: Wollen wir wirklich ein Europa, das sich ganz offensichtlich nach jenen Mitgliedsstaaten richtet, für die die Menschenrechte eben nicht Priorität sind?
Denn man erkennt deutlich die strategische Absicht hinter dem Papier: Es geht vor allem um Grenzschutz und Sicherheitspolitik. Länder wie Ungarn, die Visegrád-Staaten und leider auch Österreich konnten stark ihren Einfluss geltend machen. Die EU-Kommission machte diesen Ländern viele Zugeständnisse. Der Hintergrund ist, dass man eine Einigung erzielen möchte und diesen Ländern hier sehr entgegenkommt. Man müsste sich aber auf Ebene der Kommission die Frage stellen: Ist das denn noch mit dem vermeintlichen Wertefundament Europas vereinbar? Was hatten wir eigentlich im Sinn, als wir die Europäische Union gegründet und so wichtige Dokumente wie die Europäische Menschenrechtskonvention verabschiedet haben?
Was mich beim Lesen der Artikel zum Pakt sehr beschäftigt hat, war, dass das Konzept von Solidarität zwar oft verwendet wird, allerdings, in meiner Einschätzung, dass das auch eher ein Freikaufen darstellt. Wie wäre Ihre Einschätzung zur europäischen Solidarität?
Ja, ich sehe das ähnlich. Ich glaube, es wird sich tatsächlich die Frage stellen, wie viele Länder im Rahmen der Verteilung Geflüchtete aufnehmen, wenn es auch die Option gibt, sich finanziell zu beteiligen beziehungsweise „Abschiebepartnerschaften“ zu übernehmen. Bei den Abschiebepartnerschaften sehe ich insbesondere das Problem, dass zeitlich festgelegt ist, wann das passieren muss. Und wenn dann in diesem relativ kurzen Zeitraum nichts geschieht, dann muss die Person, die nicht erfolgreich abgeschoben werden konnte, in dem Land, das diese Patenschaft abgeschlossen hat, aufgenommen werden. Die Visegrád-Staaten, die um gar keinen Preis Menschen aufnehmen möchten, haben sich wohl auch aus diesem Grund bereits gegen den Pakt gestellt. Es gilt zu befürchten, dass im Zuge der Abschiebepartnerschaften Menschen möglichst rasch und mitunter auch auf weniger menschenrechtskonformen Weg rückgeführt werden.
Um noch von der europäischen auf die österreichische Ebene, oder die Rolle von Österreich auf dieser Ebene, zu kommen: Sie haben es schon angesprochen, dass Österreich sich in eine Reihe von Staaten, die vehement den Flüchtlingsschutz unterhöhlen, eingereiht hat. Wie kann das weitergehen, welche Rolle kann Österreich hier einnehmen?
Der Pakt selber nimmt tatsächlich Einiges aus dem Regierungsprogramm und dem hiesigen Diskurs über Asyl und Schutzgewährung auf. Man würde meinen, es sollte deshalb für die ÖVP leicht sein, dem zuzustimmen, weil sie sich hier abgebildet fühlt. Das dürfte aber nicht ganz der Fall sein, denn es gibt offenbar einige Aspekte, die man skeptisch sieht, wie bereits vor der Präsentation des Pakts in Richtung Brüssel kommuniziert wurde. Ich vermute aber, dass man schlussendlich doch zustimmen wird.
Im Hinblick auf nationale Politik ist festzuhalten, dass Länder wie Ungarn eigentlich gar kein Interesse daran haben, die Migrationsfrage in der EU zu lösen, weil sie damit natürlich Wählerstimmen generieren. Das ist so paradox wie zynisch: Im Grunde hilft die andauernde, ungelöste Situation, auch die Bilder aus Moria, um das Schreckensgespenst von 2015 heraufzubeschwören. Das befähigt dann natürlich gerade die Parteien rechts der Mitte, in diese Kerbe zu schlagen. Ich würde nationalen Politiker wie Orban unterstellen, dass er gar nicht daran interessiert ist, dass das Problem gelöst wird, weil ihm dann ein wichtiger Narrativ in seinen Wahlkämpfen abhandenkommt.
Ist das dann eigentlich etwas, das von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist, überhaupt eine europäische Lösung in der Asylfrage versuchen zu finden?
Ich möchte dem ungern zustimmen, weil ich weiterhin an Europa und die Möglichkeit einer humanen Asylpolitik glaube.
Ja, hier bin ich ganz bei Ihnen.
Ich glaube, dass die Herangehensweise der EU eine stark strategische ist. In vielen anderen Bereichen haben wir es schon geschafft, gemeinsame europaweite Lösungen zu finden, etwa im Bankwesen, jetzt versuchen wir das bei der Migration auch. Auf einer gewissen Ebene ist das wohl ein wenig zu einfach gedacht, weil bei Fragen der gemeinsamen Währung geht es eben nicht um Menschenleben und wie man mit Menschen, die genau jetzt Schutz bedürfen, umgeht. Und dieser Vergleich allein, wie er im Zuge der Präsentation des Pakts gezogen wurde, zeigt, dass man vielleicht außen vor lässt beziehungsweise lassen möchte, dass die Asylfrage ein hochemotionales und emotionalisierendes Thema ist. Der Weg scheint zu sein, die Thematik extrem nüchtern und sachlich zu betrachten, sich auf die logistischen Aspekte zu konzentrieren. Hier besteht aber die Gefahr, dass sich diese Betrachtungsweise einfach nicht mit der Wahrnehmung der Europäerinnen und Europäer und den Lebensrealitäten geflüchteter Menschen deckt.
Bei alledem wird meiner Meinung nach Grundlegendes übersehen: Der Umgang mit Schutzbedürftigen ist ein Lackmustest für die europäische Demokratie. Hier geht es nicht nur um die Geflüchteten, die zu uns kommen, es geht um uns selbst.