Die ÖVP positioniert sich – angesichts der vielfältigen Krise, von Unsicherheit und des drohenden Zerriebenwerdens zwischen einem Möchtegern-„Volkskanzler“ Herbert Kickl und des Hoffnungsträgers Andreas Babler – als Partei der „normal denkenden Mitte“ gegen die „radikalen Ränder“. Der Aufschrei ist berechtigt. David Albrich, Koordinator der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, reklamiert in einem Debattenbeitrag den Begriff „radikal“ für die solidarische Zivilgesellschaft – im ursprünglichen Sinne, gesellschaftliche Probleme „an der Wurzel zu packen“.
Die Empörung über die neue „Normalität“ der ÖVP ist riesig. Die erklärte Absicht der ÖVP, wie Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ironischerweise in einem „Kommentar der anderen“) im Standard schrieb, sei es, „Kante für die normal denkende Mitte unserer Gesellschaft zu zeigen“, da „die Radikalen“ (gemeint waren „Klimakleber“ und Feminist:innen) den öffentlichen Diskurs beherrschen würden.
Die scharfe Entgegnung von Grünen-Chef Werner Kogler, dies sei „präfaschistoid“, ist verständlich und wurde bei vielen gut aufgenommen. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen warnte bei der Eröffnung der Bregenzer Festspiele von einer Trennung in die Normalen und „Abnormalen“, in ein „Wir“ und „die Anderen“ und erhielt dafür viel Zuspruch. Er richtete seine Worte allerdings nicht nur gegen die politisch unter Druck stehenden Post-Türkisen, sondern auch gleichermaßen gegen FPÖ-Chef Herbert Kickl und den neuen SPÖ-Vorsitzenden Andreas Babler.
So neu ist die (totalitaristische) Stellung der ÖVP, wenn vielleicht auch pointierter formuliert, nicht. „Stabilität“ ist in Zeiten der Vielfachkrise keine ungewöhnliche Haltung konservativer Parteien. Die ÖVP kehrt, genau genommen, sprachlich auf den ihr gewohnten Platz als Hüterin der etablierten Ordnung zurück – weg vom populistisch-türkisen Lack der „Veränderung“ unter Sebastian Kurz. Die Reaktionen von Kogler und Van der Bellen, so wohlgemeint sie auch sein mögen, greifen also aus mehreren Gründen zu kurz. Vor allem die Gleichsetzung von Babler mit Kickl macht stutzig – und erinnert an das gerade kritisierte Gebaren.
Extreme ÖVP und FPÖ ergänzen sich
Erstens, dass die ÖVP spaltet und ausgrenzt und sich der Mittel von Rassismus und Diskriminierung bedient, ist wahrlich nichts Neues. Sie tut das in den letzten Jahren nur extremer. Kanzler Karl Nehammer schürt unter dem Deckmantel des „Kampfes gegen die illegale Migration“ Stimmung gegen schutzsuchende und muslimisch gelesene Menschen. Mit realen Auswirkungen: Seine Verbindung zum illegalen Gefängnisbau im bosnischen Flüchtlingslager Lipa, in dem durch die kroatische Polizei gefolterte Menschen interniert werden sollten, oder die unsägliche Polizeiaktion „Operation Luxor“ sind nur zwei Beispiele.
Zweitens, ja, die ÖVP verschiebt das Sagbare weiter nach Rechts und bereitet durch diese Ausgrenzungsmuster tatsächlich faschistischen Kräften den Boden auf. In der Debatte fehlt allerdings eine klare Benennung des antidemokratischen Angelpunkts, der sich nicht primär um die ÖVP, sondern vor allem in der FPÖ konzentriert. Man kleidet sich (wie deren Bruderparteien in ganz Europa) in neue harmlose Gewänder und nennt sich „freiheitlich“. Doch manchmal scheint dieser braune Kern unverhohlen durch: Das Ziel einer „Volksgemeinschaft“, ein Dreh- und Angelpunkt des Nationalsozialismus, steht offen im blauen Parteiprogramm.
Bewegung der Hoffnung
Drittens, eine abstrakte Konzentration auf das „Trennende“ ist ein Einfallstor zum ursprünglichen Vorwurf. So wird plötzlich ein Andreas Babler, der auf real existierende soziale Spaltungen in unserer Gesellschaft hinweist (so wie die Mehrheit der Menschen ihre Arbeitskraft für Lohn verkaufen muss, während andere von dieser Arbeit leben) und diese zu überwinden versucht, zum (Rand-)Treiber der gleichen Spaltungsdynamik wie ein Nehammer oder Kickl. Damit läuft die Kritik in einen Zirkel und reproduziert gerade die „Normalität“ und die „Ränder“, die sie vermeintlich anprangert und setzt Menschen, die sich für ein gutes Leben für Alle einsetzen, mit hasserfüllten Hetzern und überzeugten Nazis gleich.
Nicht das leere „Wir“ und „die Anderen“ sind das Problem. Es kommt vielmehr darauf an, wer und welche Beziehungen damit in unserer Gesellschaft gemeint sind.
Wir, und damit meine ich die Perspektive der solidarischen Zivilgesellschaft, sollten daher eine unabhängige Position einnehmen und den Begriff „radikal“ stolz annehmen. Das Wort „radikal“ leitet sich aus dem Lateinischen von radix für Wurzel ab und beschreibt das Bestreben, gesellschaftliche Probleme „an der Wurzel zu packen“ und möglichst umfassend zu lösen. Wenn wir für eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung und Umweltzerstörung eintreten, wie es die Klimakleber:innen und viele weitere Aktivist:innen tun, und dafür beschimpft werden, sollten wir den abwertend gemeinten Begriff positiv aufgreifen und selbstbewusst sagen:
Ja, wir sind nicht normal, wir bleiben unbequem und mischen uns selbstverständlich laut in die gesellschaftlichen Debatten ein. ÖVP und FPÖ wollen in Wesentlichen, dass alles so bleibt, wie es ist, und treten dafür auf die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Wir nicht. Wir bauen an einer Bewegung der Hoffnung. Mit den Vielen. Mit den Marginalisierten. Für die Menschen und die Natur. Wir wollen diese Welt radikal zum Besseren für das Wohl aller verändern.