Kinderabschiebungen: „Es braucht mehr Menschlichkeit in den Gesetzen!“


Tierra Rigby (Klassensprecherin in der HLW10) und Theo Haas (Schulsprecher der Stubenbastei). Foto: Volkshilfe Österreich

Die Abschiebung von Tina aus dem Gymnasium in der Wiener Stubenbastei und Sona aus der Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe am Reumannplatz (HLW10) sorgte österreichweit für eine Welle der Entrüstung. Wir haben mit dem Schulsprecher der Stubenbastei, Theo Haas, und der Klassensprecherin von Sona in der HLW10, Tierra Rigby, gesprochen. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass aus der Wut über die täglich stattfindenden Kinderabschiebungen eine mächtige Bewegung wurde.

Say it loud!: Theo und Tierra, euch ist in den letzten Wochen ein lauter Aufschrei gegen Abschiebungen gelungen. Was hat sich für euch dadurch verändert? Gab es ein davor und danach? 

Tierra: Mir wurde klar, wie viele Abschiebungen eigentlich passieren. Die meisten Menschen werden aus Österreich nicht in ferne Staaten abgeschoben, wie man annehmen könnte, sondern in EU-Länder wie die Slowakei, Ungarn, Rumänien oder Serbien. Das ist mir erst jetzt bewusst geworden. Mein Alltag hat sich aber auch in eine andere Richtung stark über das Erleben von Zusammenhalt und Gemeinschaft verändert.

Theo: Die Jugendlichen sind an meiner und wahrscheinlich auch an Tierras Schule viel politischer geworden (Tierra nickt zustimmend). Ich habe auch erleben dürfen, dass es einer so kleinen Gruppe möglich ist, immer größer zu werden und eine echte Bewegung zu werden. Das kann wirklich schnell gehen!

Tierra: Ja, und Social Media hat uns dabei enorm geholfen. Innerhalb von nur wenigen Stunden konnten wir die Anliegen unglaublich weit verbreiten.

Hattet ihr vorher das Gefühl, dass sich nie etwas verändern wird? 

Tierra: Ich war schon sehr überrascht, auch über das Engagement meiner Klasse. Wir dachten am Anfang, dass wir es vielleicht schaffen, ein paar hundert Unterschriften zu sammeln. Und dann wurde es auf einmal richtig groß! 

Theo: Ja, ich kann Tierra nur zustimmen. Ich habe die Petition für Tina unterschrieben, da hatte sie gerade einmal 18 Unterschriften. Bei über 3.000 waren wir dann schon richtig glücklich. Und dann waren es in Kürze über 40.000! Es hat mich so gefreut, wie schnell sich alles verbreitet hat. Auch wie selbstverständlich sich alle Seiten in der Schule solidarisiert haben: Der Elternverein, viele Lehrerinnen und Lehrer, die Direktion und viele Schülerinnen und Schüler die gesagt haben: Wir möchten nicht in einem Land leben, wo die Abschiebung von Kindern und Jugendlichen auf der Tagesordnung steht.

Hab ihr vorher schon im Freundeskreis oder in der Schule über Asylthemen diskutiert?

Tierra: In Geografie sprechen wir öfter über die Situation von Flüchtlingen. Aber auch unter Freunden war zum Beispiel Moria ein Thema. Vieles bekommt man über Social Media mit und natürlich sprechen wir dann darüber – aber sicherlich nicht so viel, wie jetzt.

Theo: Ich rede viel mit meinen Freundinnen und Freunden über Tagespolitik. Besonders viel habe ich in den letzten Jahren über die Abschiebungen von Lehrlingen diskutiert, selbstverständlich auch über den Brand in Moria. Ich habe das Glück in einer Nachbarschaft zu wohnen, in der sich viele Menschen sehr engagieren. Viele meiner Freunde sind selbst Syrer und Iraker. Daher wurde mir schon früh klar, dass in der Asylpolitik einiges sehr falsch läuft.

Viele kennen euch inzwischen und fragen sich, wie sie euch unterstützen können.

Tierra: Man kann über die Volkshilfe Österreich und Volkshilfe Wien, über Theos Schule (stubenbastei.at) und über den Elternverein meiner Schule spenden, um die Anwälte zu bezahlen und um Tina, Sona und ihren Familien die Rückkehr nach Österreich zu ermöglichen. Jedenfalls hilft es, unsere Anliegen weiterhin zu verbreiten und auf Demos zu gehen.

Theo: Der gesellschaftspolitische Diskurs, der angestoßen wurde, muss aufrecht bleiben. Wir müssen den Druck erhöhen. Denn es geht schließlich nicht um Einzelfälle, sondern um ein System, das wir gemeinsam bekämpfen müssen. Die Petition von SOS Mitmensch zur bedingungslosen Einbürgerung von hier geborenen Kindern ist eine Möglichkeit, die möglichst weite Verbreitung finden sollte.

Tierra: Auf keinen Fall aufhören zu kämpfen!

Habt ihr einen Ratschlag für andere Schülerinnen und Schüler? Was kann man tun, was hat bei euch in der Vorbereitung gut funktioniert? 

Theo: Grundsätzlich sollte man sich bewusst sein, dass man nicht alleine ist. Es gibt sehr viele Organisationen und Menschen, denen das Thema am Herzen liegt. Wenn man wie wir mit solchen Fällen konfrontiert ist, sollte man sich vernetzen, Öffentlichkeit schaffen und die Ungerechtigkeit des Systems insgesamt angehen. Wichtig ist, dass man sich bei der Pressearbeit Hilfe holt. Unsere Erfahrung zeigt, dass ohnehin sehr viele Menschen mithelfen wollen. 

Tierra: Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, darf man niemals aufgeben. Man muss einfach weiterkämpfen und so viele wie möglich in die Bewegung hereinholen.

Wie hat diese Vernetzung in Zeiten der Pandemie funktioniert? Ihr konntet euch schließlich gar nicht in den Schulen selbst treffen.

Tierra: Unsere Lehrerin hat uns im Online-Unterricht gefragt, wo Sona ist, und wenige Stunden später musste sie uns mitteilen, dass sie abgeschoben wird. Daraufhin haben wir unmittelbar eine Teambesprechung gemacht, uns über Whatsapp zusammengetan und schnell über Social Media mit Postings und Stories für Aufmerksamkeit gesorgt. Wir haben unsere Eltern gebeten, die Beiträge zu teilen, um eine größere Reichweite zu bekommen.

Theo: Dazu kam noch, dass wir sehr viel telefoniert haben. Wir haben unzählige Organisationen, Journalistinnen und Journalisten angerufen, Medien kontaktiert, damit die Fälle möglichst publik werden. 

Was muss sich jetzt ändern? 

Tierra: Es braucht mehr Menschlichkeit in den Gesetzen. Integrierte Menschen dürfen nicht abgeschoben werden! 

Theo: Politikerinnen und Politiker, die die Macht hätten, etwas zu verändern, müssen endlich Initiative ergreifen und dafür sorgen, dass sich solche Fälle künftig nicht wiederholen. Wenn weiterhin Kinder abgeschoben werden, dann erfüllt die nun von der Regierung eingesetzte Kindeswohlkommission ihren Zweck nicht. Und unser größter Wunsch ist selbstverständlich, dass Sona, Tina und ihre Familien möglichst bald in ihr Heimatland Österreich zurückkehren können. Das ist unser großes Ziel, für das wir weiterhin kämpfen.

Das Interview führte David Albrich.

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