Polen-Belarus: Keine Flüchtlingskrise, sondern Krise der Menschlichkeit


Foto: Memet Kilic (Twitter)

„Macht die Grenzen auf!“, rufen derzeit tausende Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze. Es ist keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Menschlichkeit. Gegen die Brutalität des europäischen Grenzregimes formieren sich zivilgesellschaftliche Hilfe und Protest. Die Plattform für eine menschliche Asylpolitik fordert von der österreichischen Regierung Soforthilfe für die verzweifelten und erschöpften Menschen und die unmittelbare Aufnahme von Schutzsuchenden in Österreich.

von David Albrich

Es sind schockierende Bilder an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus. Nach polnischen Angaben sind zwischen 3.000 und 4.000 Menschen in improvisierten Lagern nahe des Grenzdorfes Kuźnica eingepfercht. Mindestens weitere 10.000 Menschen hoffen in Belarus auf den Grenzübertritt. Die Menschen frieren bei Minusgraden, leiden an Hunger, Durst und schlimmsten hygischen Bedingungen in den Sumpfwäldern. Verzweifelt und ausgemergelt streiten schutzsuchende Menschen um Nahrungsmittel. Berichtet wird auch von schwangeren Frauen, die ihre Kinder verloren haben. Es gibt kein Vor und kein Zurück – und das mitten auf europäischem Boden.

Die rund drei Kilometer breite „Sicherheitszone“, in der bereits im September der Ausnahmezustand verhängt wurde, gleicht einem Kriegsgebiet. Schwerbewaffnete Militärs patroullieren entlang von kilometerlangen NATO-Stacheldraht-Rollen, Panzer fahren auf, permanent kreisen Militärhubschrauber über dem Sperrgebiet. Sowohl die belarusische Armee als auch polnische Sicherheitskräfte schießen über die Köpfe hinweg mit Sturmgewehren, russische Bomber führen nahe der Grenze Manöver durch. Wiederholt werden Menschen mit Tränengas beschossen und von beiden Seiten an die Grenze geprügelt.

Die meisten Menschen, die an der Grenze feststecken, sind aus Krisengebieten wie Afghanistan, Jemen, Syrien und dem Irak geflüchtet. Bis Ende Oktober sind mindestens 10 Menschen gestorben, sieben davon in Polen, davon mindestens ein Kind. Die Dunkelziffer dürfte viel höher liegen, da unabhängigen Journalist*innen, internationalen Beobachter*innen und Hilfskräften der Zugang rigoros verwehrt wird.

Verzweiflung treibt Menschen an

Die Außenpolitik- und Menschenrechtssprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic, war unmittelbar an der Grenze, um die Mutter eines syrischen Flüchtlings, der in Österreich lebt, zu finden. Im Interview mit dem ORF sagt sie: „Die Verzweiflung dieser Menschen muss groß sein. Die Eltern des Syrers sind seit zwölf Jahren auf der Flucht. Wenn jemand sagt, ich helfe dir und bringe dich an die europäische Grenze, sagt man nicht Nein.“ Sie wirbt damit um Verständnis, warum die Menschen auf das Versprechen des belarusischen Diktators Alexandr Lukaschenko hereingefallen sind: Sie wünschen sich nur einen sicheren Hafen.

Die Menschen sind hin- und hergerissen zwischen Belarus und Polen, geprügelt von beiden Seiten, zerrissen zwischen der Entscheidung, ob sie Hilfe in Anspruch nehmen sollen, oder nicht. Die neunköpfige kurdische Familie Abu aus dem Irak ist innerhalb von zwei Wochen neun Mal hin- und hergepusht woren. Die Großmutter, die nicht mehr gehen kann, muss fürchten, von ihrem Sohn und ihren Enkelkindern getrennt zu werden, wenn sie ein Krankenhaus aufsucht. Die Familie lebt im Dreck und Schlamm, muss schmutziges Wasser trinken, kämpft mit der Kälte, wie der Sohn gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland berichtet.

Kaja Filaczyńska, eine Ärztin der Hilfsorganisation Medycy na granicy (dt. Ärzt*innen an der Grenze) sagt gegenüber Al Jazeera: „Das erste Mal, als wir Kinder im Wald sahen, waren wir schockiert. Wir sahen eine Frau, die sich hinhockte und mitten in der Nacht ein kleines Baby stillte, und ein weiteres dreijähriges Kind, das neben ihr stand. Dieses Bild ging uns nicht mehr aus dem Kopf: eine verlorene, verlassene, stillende Frau mit zwei Kindern in einem kalten Wald mitten im Nirgendwo.“ Ein weiteres Mal halfen sie einer Gruppe von 30 Menschen, 16 davon Kinder. „Die Kinder riefen: ‚Bitte, Wasser!‘ Es war herzzerreißend“, erzählt Filaczyńska.

Zivilgesellschaftliche Hilfe

Hilfe für die Schutzsuchenden kommt von Gemeinden und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Polen und aus dem Ausland. „Einige wollen helfen, andere bedrohen die Geflüchteten“, erzählt eine Helferin aus Białystok der Nachrichtenagentur euronews unter Tränen. „Aber es sind Menschen. Und man sollte anderen Mitmenschen immer helfen.“ Freiwillige der Hilfsorganisation Grupa Granica (dt. Grenzgruppe) helfen unermüdlich, sammeln Verpflegung und winterfeste Kleidung. In einem eindringlichen Appell an die Europäische Kommission und das UN-Flüchtlingshochkommissariat warnt die Initiative vor einer weiteren Eskalation und fordert humanitäre Hilfe sowie ein Ende der Spirale der Gewalt.

In Michałowo nahe der Grenze, das sich zur „solidarischen Stadt“ erklärt hat, organisieren Bewohner*innen Hilfe für die Schutzsuchenden. In einem Feuerwehrhaus und einer Schule werden Hilfsgüter zur Verteilung gesammelt. Von dort aus machen sich Aktivist*innen auf den Weg zu den Geflüchteten in die Wälder. Dabei koordiniert man sich auch mit internationalen Organisationen. Tareq Alaowd von der deutschen Initiative mauerfall.jetzt berichtet im Bayern 2-Podcast von einer Solidaritätsaktion in Michałowo, bei der die Häuser als Zeichen für einen sicheren Zufluchtsort grün beleuchtet wurden. Die Helfer*innen lassen sich von Grenzen nicht aufhalten.

Helferin Anna Alboth von der polnischen Menschenrechtsorganisation Minority Rights Group wendet sich direkt an die europäische Zivilgesellschaft. Es brauche, so Alboth gegenüber der Tagesschau, den Druck von Aktivist*innen und normalen Bürgern*innen in der EU, um humanitäre Korridore zu organisieren. Genau das versuchte die von Seebrücke und Leave no one behind unterstützte Initiative mauerfall.jetzt: Sie stellte einen Hilfstransport aus Deutschland auf die Beine. Bei der Rückfahrt planten sie, 50 Menschen mit nach Deutschland zu nehmen, sie wurden allerdings von der polnischen Polizei und Armee an der Evakuierungsmission gehindert.

Österreich schürt Kriegsrhetorik und -handlungen mit

Die beeindruckende gelebte Solidarität der Zivilbevölkerung soll durch aggressive nationalistische und rassistische Kriegsrhetorik der Regierenden gebrochen werden: Im polnischen Staatsfernsehen ist von einer „Invasion aus dem Osten“ die Rede. Man schürt Hass gegen Geflüchtete und unterstellt ihnen in Anlehnung an vergangene Kriege, sie würden „Attacken auf Polen“ organisieren. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki spricht von der Verteidigung einer „heiligen Grenze“, an der schon „viel Blut vergossen wurde“. Teile der liberalen polnischen Opposition fordern einen NATO- und Frontex-Einsatz. Auch die litauische Innenministerin redet von einer „Invasion“. Umgekehrt wirft der belarussische Diktator Lukaschenko dem Westen eine „hybride Kriegsführung“ vor, also „Krieg mit anderen Mitteln“.

Europas Regierende fachen diesen Kriegstaumel weiter an und drehen an der Gewaltspirale. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen redet von einem „hybriden Angriff“. Der deutsche Innenminister Horst Seehofer warnt vor einer „hybriden Bedrohung“ und „politisch motivierter Zuwanderung“, die dazu diene, „die EU und insbesondere Deutschland zu destabilisieren“. Der neue österreichische Kanzler Alexander Schallenberg spricht Polen seine „volle Solidarität“ aus und bezeichnet die verzweifelt schutzsuchenden Menschen als „Waffen“.

Österreich hat eine ganz unmittelbare Verantwortung für die Zermürbung der Menschen an der belarussischen Grenze. Bereits im August schickte die Regierung die Polizei-Spezialeinheit Cobra für zwei Monate nach Litauen. Innenminister Karl Nehammer und Schallenberg, damals noch Außenminister (beide ÖVP), inszenierten sich persönlich an der Grenze. Schallenberg sprach dort bereits von „Migration als Waffe“, während Nehammer meinte, Litauen würde „nicht nur die litauische Grenze, sondern auch die österreichische Grenze schützen“. Die Cobra wurde bereits 2020 an der griechisch-türkischen Grenze zur Flüchtlingsabwehr eingesetzt – wofür sie von Nehammer ein „Tapferkeitsabzeichen“ verliehen bekamen.

Unterdessen wird an den Grenzen weiter nicht nur mit Worten, sondern mit Taten aufgerüstet. Die polnische Regierung schickte 17.000 Polizeibeamte und 11.000 Soldaten an die Grenze. Litauen setzte im Norden die Armee gegen Belarus in Bewegung und verhängte ebenfalls den Ausnahmezustand. Die Ukraine mobilisiert im Süden weitere 8.500 Soldaten und Polizeibeamte samt 15 Hubschraubern. Und der österreichische Innenminister will Polen mit Cobra und Panzerfahrzeugen unterstützen: „So wie wir die EU-Außengrenze in Griechenland und Litauen gesichert haben, bieten wir auch Polen unsere Unterstützung an.“

Spielball imperialistischer Mächte

Geflüchtete werden abermals, wie schon zwischen Griechenland, der EU und der Türkei, zum Spielball von beinharter Geopolitik. Es geht nicht nur um eine regionale Auseinandersetzung zwischen Polen und Belarus, also zwischen dem autoritären PiS-Regime und einem „machtbessenen Autokraten“ (Lukaschenko). Sondern im Wesentlichen auch zwischen der EU bzw. dem Westen einerseits und Russland und seinen Verbündeten (zum Beispiel dem Assad-Regime) andererseits. Alle involvierten Regional- und Großmächte sind für die verheerende Lage der Menschen verantwortlich. Davon ist die „Nobelpreisträgerin“ EU nicht ausgenommen, in der systematisch Menschenrechte gebrochen werden.

Nach dem Brand von Moria ließ die EU mit insgesamt 313 Millionen Euro neue de facto Gefängnislager auf den griechischen Inseln Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos samt militärischer „Kommandozentrale“ im griechischen Innenministerium errichten – Camps, gegen die sogar die EU-Menschenrechtsagentur protestiert. Die von der EU unterstützte Einheitsregierung in der libyschen Hauptstadt Tripolis ließ Anfang Oktober in einer Großrazzia 4.000 Migrant*innen festnehmen und in den berüchtigten (auch von der EU mitfinanzierten) Folterlagern inhaftieren – ein Geflüchteter wurde erschossen, 15 weiter verletzt, 6 davon schwer. Die EU ist keine Partnerin bei der Wahrung der Menschenrechte.

Die EU hat in den letzten Jahren schrittweise Mauern hochgezogen, die Außengrenzen dichtgemacht und tief in Länder außerhalb Europas verlagert und so die Flucht für viele Menschen zu einem Spiel auf Leben und Tod gemacht. Seit 2014 sind alleine im Mittelmehr 23.000 Menschen ertrunken, so offizielle Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (Stand Ende Oktober 2021). Schutzsuchende Menschen klammern sich selbstverständlich an jeden Strohhalm, der ihnen einen Weg zu einem Leben in Sicherheit, Frieden und Würde verspricht. Lukaschenko stellte diesen Menschen via Visa und Flügen nach Belarus einen Ausweg aus dem Elend in Aussicht, den ihnen die EU verwehrt. Die Union macht nun umgekehrt Lukaschenko für die Situation verantwortlich, die sie selbst geschaffen hat.

Zivilgesellschaftlicher Aufschrei nötig

Für die Menschenrechte müssen wir als Zivilgesellschaft einstehen. Es gibt eine Alternative abseits der Regierenden, eine Bewegung, die sich „von unten“ formiert. So gingen am 17. Oktober in Warschau tausende Menschen in Solidarität mit den Geflüchteten an der Grenze auf die Straße. Es braucht eine laute Öffentlichkeit. Das schließt auch ein, dass unverzüglich unabhängige Journalist*innen, medizinische und juristische Hilfe an die Grenze vorgelassen werden. Das fordern auch die Literaturnobelpreisträgerinnen Swetlana Alexijewitsch, Elfriede Jelinek, Herta Müller und Olga Tokarczuk in einem offenen Brief sowie Reporter ohne Grenzen.

Es benötigt darüber hinaus eine sofortige Abrüstung der Worte und Taten. Die Kriegsrhetorik muss beendet werden und alle bewaffneten Einheiten müssen von der Grenze abgezogen, sowie die Entsendung von österreichischem Kriegsgerät und Personal wie der Cobra verhindert werden. Stattdessen sollten Hilfsorganisationen die Versorung der Menschen übernehmen, humanitäre Korridore geschaffen und Menschen in Europa aufgenommen werden. Wir haben Platz in Österreich und sind bereit, Menschen auf der Flucht hier willkommen zu heißen. Zusammen treten wir für die Öffnung der Grenzen ein – wie es von den Geflüchteten an der belarusisch-polnischen Grenze gefordert wird.