Warum Freiheit immer in uns selbst beginnt


Ronny Kokert krempelt die Ärmel nicht nur füt Fotos hoch. Seine Hilfe kommt tatsächlich vor Ort an. Foto: Ronny Kokert

2016 gründete Ronny Kokert die Shinergy Freedom Fighters. Er unterrichtet Kampfkunst für junge Geflüchtete und hilft freiwillig auf der griechischen Insel Lesbos. Im Frühjahr 2021 erscheint sein Buch „Der Weg der Freiheit“ bei Kremayr & Scheriau. In Say it Loud! argumentiert er, dass wir unsere eigene Freiheit und Würde verteidigen, wenn wir die Aufnahme von Geflüchteten einfordern.

„We want Freedom!“, ruft der junge Mann, der neben mir steht. Genau wie all die anderen, die sich hier am Hafen von Lesbos eingefunden haben. Um laut zu werden. Und verzweifelt auf die menschenunwürdigen Zustände hinzuweisen, unter denen sie im Flüchtlingslager Moria leben. Leiden und sterben. In provisorischen Unterkünften aus Pappe, Holzpaletten und alten Plastikplanen. Ohne Strom, Wasser und sanitäre Anlagen. In ständiger Angst und Unsicherheit.

Man sieht die Bilder im Fernsehen. Wie hunderte Geflüchtete friedlich demonstrieren. Wie die Polizei mit Tränengas in die Gruppe feuert und sie gewaltsam auseinandertreibt. Die Menschen sieht man nicht. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich die Zustände auf Lesbos immer noch nicht geändert haben. Dass Männer, Frauen und Kinder immer noch in Zelten frieren und hungern. Mitten in Europa.

Die Menschen haben Namen. Sie heißen Leyla, Mostafa und Omar. Sie haben eine Familie, Freundinnen und Freunde und eine Heimat, die sie unter Lebensgefahr und unsäglichem Leid verlassen mussten. Sie haben Gefühle. Angst, Verzweiflung und die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in Frieden. Und sie haben eine Geschichte. Von Krieg und Terror. Von verzweifelter Flucht und Ausgrenzung. Sie wollen kein Mitleid. Sie wollen gesehen werden. Genau wie wir, die das Glück hatten, in einem Land geboren worden zu sein, wo wir mehr haben, als wir brauchen. Und die Freiheit, unser Leben so zu gestalten, wie wir wollen.

Selbstoptimierung

Individualität steht bei uns hoch im Kurs. Jede und jeder will einzigartig und etwas Besonderes sein. Selbstverwirklichung heißt das Motto, „Ich, ich, ich!“ die Devise. Dazu quält man sich durch rigide Null-Diäten, kauft sich durch lächerliche Mode-Trends und rezitiert sich durch esoterische Kalendersprüche. Damit alle sehen können, wie toll wir sind. Zumindest in den Filtern sozialer Medien zur Selbstbeweihräucherung. Leider machen das jetzt alle. Und wir verlieren uns erst wieder in der Anonymität kollektiver Selbstoptimierung. Mit Individualität, Persönlichkeit oder gar Selbstverwirklichung hat das nur wenig zu tun. Mit Konformität, Fremdbestimmung und verbissener Egozentrik schon.

Kein Wunder. So wie Einatmen vom Ausatmen abhängt, braucht es auch einen Gegenpol, um die eigene Individualität erleben zu können. Es braucht die Verbundenheit. Erst in der Verbindung zu Mitmenschen können wir über uns hinauswachsen. Und die wahre Größe unserer individuellen Persönlichkeit erleben. Im Spiegel der Menschlichkeit und des Mitgefühls finden wir zu uns selbst. Und zur Freiheit.Die Politik will nicht, dass wir die Menschen auf Lesbos sehen. Sie versteckt sie hinter Zahlen und Statistiken, um sie als Faustpfand für ihre beschämende Politik der Abschreckung zu missbrauchen. Und die Menschen wie Leyla, Mostafa und Omar sind vielleicht nur der Anfang. Die politische Willkür kann sich bald auch gegen andere richten, die den Zielen machtgieriger Kleingeister im Wege stehen. Dann sind die Andersdenkenden dran. Dann sind wir dran.

Regierung muss uns helfen lassen

Auf Lesbos versinkt gerade unsere eigene Würde. Und unsere Freiheit. Wir müssen aus der Vergangenheit lernen, wie wir in Zukunft die Gegenwart meistern. Und nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs steht fest: Das darf nie wieder geschehen. Die menschliche Würde muss unter allen Umständen unantastbar bleiben. Deshalb wurden 1948 die grundlegenden Menschenrechte erklärt. Wird dieser Konsens nur an einer Stelle gebrochen, öffnet das die Tür zur Aushöhlung der Menschenrechte. Soweit dürfen wir es nicht kommen lassen.

Der Tatbestand heißt unterlassene Hilfeleistung. Sofortige Evakuierung ist die einzige zulässige Maßnahme. Und wenn eine Regierung das unsägliche Leid in den Flüchtlingslagern und auf der Balkanroute nicht beendet und die Rettung unterlässt, wird Handeln zum Gebot. Und Widerstand zur Pflicht. Dann müssen wir noch lauter werden. Wir müssen hinsehen, aufstehen und der Schande entschlossen entgegen gehen. Für die Menschlichkeit. Und für die Freiheit, die immer in uns selbst beginnt.

Das Say it loud!-Magazin erscheint vierteljährlich und ist auf Protesten, über Sammelbestellungen (Empfehlung für Initiativen und Organisationen) und als Einzelabo erhältlich.