Say it loud! – Eine laute Zivilgesellschaft in einem Zeitalter der Katastrophen


Foto: Jakob Alexander

David Albrich und Judith Ranftler, Mitglieder der Kerngruppe der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, ordnen im Buch Say it loud! Beiträge zu aktuellen Fragen der Flüchtlingspolitik die Dimensionen der aktuellen Mehrfachkrise des Kapitalismus ein und plädieren für einen inhaltlichen Austausch unterschiedlicher Zugänge, um die solidarische Zivilgesellschaft insgesamt zu stärken.

Wir leben in Österreich eine ungemein aktive und lebendige Zivilgesellschaft, die selbstbewusst für Demokratie, Menschlichkeit und die Bewahrung unseres Ökosystems kämpft. Eine Zivilgesellschaft, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt, sich mutig an vorherrschenden Meinungen und Regierungspolitiken reibt, auch unangenehme Wahrheiten ausspricht und Lösungen vorschlägt. Wir versuchen in Zeiten gewaltiger globaler Herausforderungen unermüdlich Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und damit Verhältnisse aufzubereiten, unter denen eine solidarische Welt ohne wirtschaftliche Ungleichheiten, Krieg, Unterdrückung und Umweltzerstörung erst möglich wird.

Oft fehlt es in der Hitze des Gefechts, beim Lauf von einem Protest zum nächsten, angesichts einer schieren Flut an Krisen und einer Überwältigung an politischen Handlungen von Regierenden, die uns erschöpfen und demoralisieren können, an Zeit und Räumen, in denen wir uns inhaltlich austauschen und von einander lernen, Strategien und Taktiken entwickeln und neue Kraft für kommende Kämpfe schöpfen können. Oft wird die „Wissenschaft“ als eine außenstehende Kommentatorin der Ereignisse, ohne echte Verbundenheit mit den Bewegungen der Zivilgesellschaft, wahrgenommen. Aus diesen Überlegungen heraus entstand 2020 in Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt Wien und der Volkshilfe Österreich die Gesprächsreihe „Say it loud!“.

Aktivist:innen, Vertreter:innen aus der Wissenschaft und Betroffene als Expert:innen ihrer eigenen Situation sollten auf einer gemeinsamen Plattform in Dialog treten, unterschiedliche Standpunkte ausrollen und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Bislang konnten insgesamt fünf Gespräche aufgezeichnet werden:

Etwas haben wir aus diesen Runden jedenfalls mitgenommen: Die inhaltliche Auseinandersetzung hat zu einer Verbindung der Gesprächspartner:innen beigetragen und das gegenseitige Verständnis von Betroffenen, Expert:innen und Aktivist:innen bereichert. Wir sind überzeugt davon, dass auf dieser die einzelnen Disziplinen und Schwerpunkte übergreifenden Basis politische Forderungen entwickelt werden können und müssen, um gesellschaftliche Verbesserungen einzufordern und umzusetzen.

Zeitalter der Katastrophen

Im Zentrum der sozialen Bewegungen steht das Bedürfnis vieler, die Vereinzelungen zu überwinden und die Kräfte der Zivilgesellschaft zu einer mächtigen Bewegung zu bündeln, um eine globale Trendwende einzuläuten. Wir würden sogar sagen, dass die Stärkung unserer Schlagkraft spätestens im Angesicht der multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts eine Notwendigkeit und Priorität geworden ist, von der letztendlich unser Überleben auf dem Planeten abhängt. Wir leben in einem neuen Zeitalter der Katastrophen1, einer Ära massiver ökologischer, wirtschaftlicher, geopolitischer, politischer und ideologischer Verwerfungen, in der Verzweiflung und Hoffnung oft nahe beieinander liegen. Insofern scheint es sinnvoll, einen Rahmen abzustecken, der die Orientierung in diesen schwierigen Zeiten erleichtert.

Die ökologische Dimension der Krise ist das drängendste Problem unserer Zeit. Sturzfluten, Überschwemmungen und Hochwasser, Dürre und Hitzewellen führen uns auch hierzulande vor Augen, wie dramatisch sich das globale Klima inzwischen aufgrund der menschengemachten Treibhausgasemissionen verändert hat. Wetterextreme nehmen an Häufigkeit zu und treiben schon jetzt hunderttausende Menschen in die Flucht. Andreas Weber und Sarah Nash behandeln diese Auswirkungen ausführlich in ihren Beiträgen. Der fossile Kapitalismus, die primäre Energiegewinnung aus Kohle, Erdöl und Erdgas, droht der Menschheit den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das immer stärkere Vordringen der industriellen Landwirtschaft in bislang vom Menschen im Wesentlichen unberührte Gegenden bringt ganze Ökosysteme zum Kippen und erhöht die Übertragungswahrscheinlichkeit pathogener Viren wie im Fall von COVID19.

Die wirtschaftliche Dimension der Krise des globalen Kapitalismus verstärkt unmittelbar weltweite Migrationsbewegungen. Wiederkehrende Nahrungsmittelkrisen, hohe an den Ölpreis gekoppelte Getreidepreise und neoliberale Spekulationsgeschäfte inmitten eines sich verändernden Klimas und einer seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007–2009 dahindümpelnden Weltwirtschaft haben die globalen Ungleichheiten verschärft und Millionen Menschen auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit und Würde in Bewegung gesetzt. Perspektivenlosigkeit und Armut nehmen aber auch hierzulande insbesondere vor dem Hintergrund der massiven Teuerung zu, bereits sinkende Reallöhne werden von der Teuerung aufgefressen, Sozialmärkte bekommen immer mehr Zulauf.

In dieser äußerst angespannten Lage nehmen geopolitische Auseinandersetzungen um die weltweite Verteilung und Kontrolle von Profiten, Ressourcen und Märkten zu. Der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auf dramatische Weise das Bild eines scheinbar friedlichen Europas zerstört – ein Bild, das selbst so nicht ganz stimmte: Vielen ist etwa der blutige Bürgerkrieg am Balkan in den 1990er-Jahren noch schmerzlich in Erinnerung. Kriege sind plötzlich nicht mehr entfernte Schlachten im Irak, Jemen oder in Afghanistan (was sie für Geflüchtete und mit ihnen solidarische Menschen ohnehin nie waren). Mit einem Mal wird spätestens jetzt allen bewusst, dass Regierende, wenn es hart auf hart kommt, nicht vor brutalen unmenschlichen Maßnahmen zurückschrecken, anstatt die Probleme unserer Zeit ernsthaft anzupacken.

Die politische Dimension ist vor allem gekennzeichnet durch die Krise jener Parteien (im Westen vor allem sozialdemokratischer und konservativer Parteien), die die neoliberale Ausprägung des Wirtschaftssystems vertraten. Dadurch haben sich Räume für die Linke und die Rechte geöffnet, für Momente der Hoffnung wie der kometenhafte Aufstieg von Syriza in Griechenland oder die vielfältigen sozialen Bewegungen, aber auch die Monster unserer Zeit wie Donald Trump und Herbert Kickl. Durch das beständige Nachrücken der Parteien des Zentrums (und Teile der Linken) nach rechts äußert sich diese Krise vor allem in einem staatlichen Rechtsruck mit immer noch härteren Gesetzen und Maßnahmen gegen Geflüchtete und Muslim:innen. (Die Polizeiaktion „Operation Luxor“ gegen muslimische Aktivist:innen zählte sicher zu den traumatischsten Erlebnissen für die Betroffenen.)

Nirgendwo wird die ideologische Dimension der Krise deutlicher als an der Ungleichbehandlung von ukrainischen und anderen Geflüchteten. Doro Blancke, Stephan Handl, Susanne Scholl, Ronny Kokert und Petar Rosandić (bekannt als Rapper Kid Pex) legen in ihren Beiträgen den Finger in eine europäische Wunde: Sie zeigen auf, wie brutal, wie häufig, wie selbstverständlich Geflüchtete an den Außengrenzen entmenschlicht werden und ihnen das Recht auf Asyl abgesprochen und verwehrt wird. Doch nicht nur hunderte Kilometer entfernt von uns wird Recht gebrochen – unser Interview mit der Schülerin Tina, die 2021 abgeschoben wurde, zeigt nicht nur die menschliche Komponente auf – es wird deutlich, wie brutal unsere Rechtslage ist, sodass solche Handlungen möglich sind. Je tiefer die anderen Krisenmomente werden, desto stärker werden Regierende auch die Karte der Unterdrückung und des Rassismus ausspielen.

Rolle der Zivilgesellschaft

Demgegenüber stehen weltweit immer mehr Menschen auf und nehmen die Geschicke in die eigenen Hände. 2015 war nicht zufällig das Gründungsjahr der Plattform für eine menschliche Asylpolitik. Spätestens seit damals erleben wir in unterschiedlichen inhaltlichen Kontexten eine starke Verbündung der Zivilgesellschaft: der Sommer der Solidarität mit Geflüchteten, mit anhaltendem Austausch und Unterstützung, aber auch die Wucht der Black Lives Matter-Bewegung, Fridays For Future und Extinction Rebellion als eindrucksvolle Bewegungen, die uns alle mitreißen, um hoffentlich doch noch eine Kehrtwende in der Klimafrage und einen weltweiten Linksruck zu erreichen.

Die Diskussionen über Asylpolitik, Antirassismus und Menschenrechte sollten vertieft, verschiedene Positionen zusammengeführt und ein Beitrag zu strategischen Überlegungen abseits des engen Korsetts der etablierten Politik geleistet werden – hin zu einem Aufbruch der Zivilgesellschaft und einer solidarischen Zukunft für alle. Dieses Buch ist ein weiterer Baustein, um die Themen der Gesprächsreihe mit Beiträgen von Teilnehmer:innen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Ob uns dieses Vorhaben, die Zivilgesellschaft in Österreich strategisch zu stärken, in den Gesprächen und mit diesem Buch gelungen ist, mögen unsere Unterstützer:innen und Leser:innen beurteilen.

  1. Eine Anspielung auf Eric Hobsbawm, der die Ära vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 als „Zeitalter der Katastrophen“ charakterisierte. Siehe: Eric Hobsbawm, Das kurze 20. Jahrhundert: Das Zeitalter der Extreme [1995] (Darmstadt, 2019)

Das Buch, herausgegeben von der Grünen Bildungswerkstatt Wien und der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, ist kostenlos erhältlich.