Putin-Methoden: Regierungsnaher Gefängnisbauer klagt SOS Balkanroute

Das Wiener Zentrum für Migrationspolitik (ICMPD), der Errichter des Gefängnistraktes im bosnischen Flüchtlingslager Lipa, versucht die Menschenrechtsorganisation SOS Balkanroute mittels einer Klage mundtot zu machen. Wir verurteilen diesen politischen Einschüchterungsversuch auf das Schärfste und fordern die Grünen und ÖVP in der Regierung auf, ihre eigene Organisation zu maßregeln und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu gewährleisten.

„Die Republik Österreich klagt indirekt eine österreichische Flüchtlings-NGO“, kritisiert David Albrich, Koordinator der Plattform für eine menschliche Asylpolitik. Das ÖVP-Innenministerium, geführt von Gerhard Karner, vertritt die Republik Österreich in der politischen Steuerungsgruppe des ICMPD und förderte die Einrichtung mit mindestens drei Millionen Euro. Dieses Institut klagt nun (offenbar kofinanziert mit Steuermitteln) SOS Balkanroute und Obmann Petar Rosandić alias Kid Pex wegen Kreditschädigung und Ehrenbeleidigung.

„Diese neue Stufe der Eskalation erinnert an die Methoden totalitärer Politiker. Trump, Putin und Orban: Sie alle versuchen die Opposition zum Schweigen zu bringen“, sagt Albrich. Auch die Plattform für menschliche Asylpolitik wurde vor zwei Jahren von FPÖ-Chef Herbert Kickl geklagt – und hat gewonnen! „Wir rufen alle Demokrat:innen auf, sich an den Prozesskosten für SOS Balkanroute zu beteiligen. Wir werden auch diesen Einschüchterungsversuch abwehren und die Demokratie verteidigen.“

ICMPD beteiligt am Menschenrechtsbruch

Das ICMPD ist ein Rädchen im vom damaligen Innenminister Karl Nehammer ausgerufenen „Rückführungsmechanismus“ am Balkan, wie die Plattform für eine menschliche Asylpolitik ausführlich dokumentierte. Dieser wird von Wien aus koordiniert und bildet eine Achse mit nationalistischen Kräften in Europa. Die besondere Rolle des ICMPD: Es hilft bei der Umgehung von EU-Bestimmungen. FRONTEX darf nämlich keine Abschiebungen in Drittstaaten wie Bosnien und Herzegowina organisieren.

„Wenn Menschen in diesem neuen Gefängnistrakt eingesperrt werden sollen, nachdem man ihnen von Österreich abwärts die Stellung eines rechtmäßigen Asylantrags verwehrt, sie von der kroatischen Polizei gefoltert wurden, sie in einem abgelegenen Lager jahrelang zermartert werden, man ihnen ihre letzte Würde raubt und das ICMPD inmitten dieses Prozesses ein weiteres Abschiebegefängnis baut, dann beteiligt man sich am Menschenrechtsbruch, selbstverständlich“, so Albrich abschließend.

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Recherchen zum Gefängnis in Lipa legen nahe: ICMPD williger Vollstrecker der ÖVP-Politik

Absprachen auf höchster Ebene über bevorstehende Abschiebungen. Der bosnische Sicherheitsminister Selmo Cikotić trifft im Oktober 2022 in Wien seinen österreichischen Amtskollegen Gerhard Karner und ICMPD-Chef Michael Spindelegger und berichtet über die Rückführungen, die „in nächster Zeit von dieser Organisation durchgeführt werden“. Fotos und Screenshots: Bosnisches Sicherheitsministerium

ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer und das Innenministerium dürften die treibenden Kräfte der systematischen Menschenrechtsverletzungen am Balkan und politisch verantwortlich für den Bau des Abschiebegefängnisses im bosnischen Flüchtlingslager Lipa sein, zeigen Recherchen der Plattform für eine menschliche Asylpolitik. Das dem Innenministerium unterstehende „Migrationszentrum“ ICMPD dürfte dabei das ausführende Organ des Kanzlers sein, so der Verdacht. Es errichtete das Gefängnis, umgeht dabei EU-Bestimmungen und organisiert mit bosnischien Behörden nachweislich Zwangsdeportationen von Geflüchteten.

von David Albrich

Das neue Abschiebegefängnis im bosnischen Flüchtlingslager Lipa ist kein einmaliges Hoppala eines angeblich unabhängigen österreichischen Migrations-Think Tanks oder ein bloß „gesicherter Bereich“ für schutzsuchende Menschen, wie der Bauherr selbst beteuert. Das Gefängnis, Anfang April von der Menschenrechtsorganisation SOS Balkanroute aufgedeckt, ist die beinharte Realität der von Österreich vorangetriebenen Politik des verharmlosend genannten „Grenz- und Migrationsmanagements“. Unsere Recherchen zeichnen die Geschichte des Gefängnisses als bewusstes politisches Projekt, das die Aushebelung der Menschenrechte institutionalisiert, nach. [1]

Österreich leitet Abschiebeplattform JCP

Alle wesentlichen Akteure des Gefängnisses waren im Sommer 2020 auf der „Westbalkan-Konferenz“ vertreten, zu welcher der damalige ÖVP-Innenminister Karl Nehammer geladen hatte. Unter österreichischer Führung beschlossen die EU-Innenminister, bosnisches Sicherheitsministerium und Grenzpolizei, die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX und das regierungsnahe Zentrum für Migrationspolitik (ICMPD) die Gründung einer „Plattform gegen illegale Migration“ mit dem Sitz in Wien. Das Innenministerium sagte die operative Unterstützung mit Personal und Büros zu. Ziel: Mehr Rückführungen.

Aus dem Abschlussdokument, als „Wiener Erklärung“ bekannt, wurde schließlich im Februar 2022 nach mehreren offiziellen Gipfeln und inoffiziellen Arbeitsgesprächen „auf Beamtenebene“ (wie Nehammer selbst in einer Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage bestätigte) die Joint Coordination Platform (JCP). Chef wird der stellvertretende FRONTEX-Direktor Berndt Körner. Der EU-Kommissar und Orban-Vertraute Olivér Várhelyi stellt die nötigen finanziellen Mittel bereit. Das ICMPD war an allen entscheidenden Treffen vertreten, leistete durch die Ausrichtung der eigenen „Vienna Migration Conference“ einen aktiven Beitrag in der Ausgestaltung der Beschlüsse und wird von Várhelyi bei der Präsentation der Plattform in Wien explizit als wichtiger Partner und Empfänger von EU-Geldern genannt (siehe Zeitachse unten).

Das juristische Problem, die Zahl an Rückführungen zu steigern: FRONTEX darf laut EU-Bestimmungen keine Abschiebungen unmittelbar in Drittstaaten wie Bosnien und Herzegowina organisieren. „Eine solche Einschränkung gilt jedoch nicht für das ICMPD als eine der Vertragsparteien des JCP“, erklärt der Berliner Investigativjournalist Matthias Monroy die besondere Rolle, die das ICMPD in dem von Österreich konstruierten „Rückführungsmechanismus“ am Balkan einnimmt. Im Klartext: ICMPD tut, was FRONTEX nicht darf.

Oktober 2022: ICMPD, Karner und Cikotić beraten in Wien Rückführungspläne

In Österreich hält man sich über diesen Mechanismus eher bedeckt. In Bosnien spricht man offener darüber, sichtlich in der Hoffnung, bei seinen Auftraggebern und im EU-Beitrittsprozess als ernster Partner wahrgenommen zu werden. Das bosnische Sicherheitsministerium berichtet im Oktober 2022, während der Bauarbeiten des Abschiebezentrums, offen über eine Beratung von Minister Selmo Cikotić mit ICMPD-Chef Michael Spindelegger in Wien zur bevorstehenden Abschiebung von „illegalen Migranten“, die „in nächster Zeit von dieser Organisation [ICMPD] durchgeführt werden“ – es wird betont: in „Erfüllung der Verpflichtungen gegenüber der Europäischen Union“. Beim gleichen Besuch in Wien tritt Cikotić auf einer ICMPD-Konferenz auf und trifft ÖVP-Innenminister Gerhard Karner zu Gesprächen über den Fortschritt im Grenz- und Migrationsmanagement.

ICMPD, in dessen politischer Steuerungsgruppe das Innenministerium vertreten ist, nimmt offenbar bereitwillig Geld an, so der Verdacht, um bestehendes EU-Recht zu umgehen. Als Ende 2020 Flüchtende in ihrer Verzweiflung das Lager Lipa in Brand setzten, bietet sich für die politisch Verantwortlichen in Österreich die Gelegenheit, über den Wiederaufbau Verträge zu beeinflussen und sich die bosnische Politik für ihr Vorhaben gefügig zu machen. Monika Mokre von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vermutet damals bereits, dass ein wiederaufgebautes Lipa „von Menschen bevölkert werden soll, die Österreich loswerden will“. Volkshilfe, Diakonie und weitere NGOs warnen vor Kettenabschiebungen.

EU-Kommissar Várhelyi: „Asylbetrüger inhaftieren“

Und Lipa wird tatsächlich zum „Pilotprojekt“ für ein Abschiebe-Internierungslager, wie EU-Kommissar Várhelyi erklärt, samt ICMPD als willigem Vollstrecker. Kurz nach dem Treffen von Cikotić, Karner und ICMPD in Wien zur Durchführung von Rückführungen, sagte Várhelyi im Rahmen eines Vertragsabschlusses im November 2022 zwischen dem Lager-Betreiber IOM und selbigem Ministerium in Sarajevo unverblümt: „Ich verkünde heute ein weiteres Pilotprojekt in Höhe von 500.000 Euro für das Lager Lipa. Wir müssen unsere Internierungslager in Lipa und in der Region unter Kontrolle halten. Das heißt, wir müssen die Asylbetrüger inhaftieren, bis sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren.“

EU-Kommissar Oliver Várhelyi präsentiert im November 2022 in Sarajevo das Pilotprojekt eines „Internierungslager“ in Lipa, finanziert mit einer halben Million Euro aus EU-Geldern. Foto und Screenshot: EU-Delegation in Bosnien und Herzegowina.

Schwarz auf Weiß. Die Absicht war von Beginn an, Menschen zur Abschiebung hinter Gitter zu sperren, auch wenn im Nachhinein – teils mit Zusagen weiterer finanzieller Unterstützung für Bosnien – versucht wird, das Gefängnis weiß zu waschen.

Der offiziellen Politik geht es beim „Grenz- und Migrationsmanagement“ nicht um die Gewährleistung des Menschenrechts auf Asyl, sondern um dessen Aushebelung. Schutzsuchende sollen zermürbt, engagierte Helfer:innen der Zivilgesellschaft entmutigt, Solidarität zerstört werden. Die neue Haftanstalt inmitten eines von Flüchtenden bereits ohnehin als Gefängnis erlebten Lagers, ist ein weiterer grausamer Ziegelstein im rassistischen, neokolonialen Projekt der „Festung Europa“. Unsere Recherchen ordnen ein, wie eng Kanzler, österreichisches Innenministerium, ICMPD und EU-Einrichtungen mit den bosnischen Behörden in diesem widerwärtigen politischen Projekt zusammenarbeiten.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Demütigung und Drangsalierung von schutzsuchenden Menschen am Balkan in Wien zumindest billigend zur Kenntnis genommen werden.

Timeline

Vorgeschichte

  • Mai 2018: Erklärung von Sofia. Bekenntnis zwischen den EU-Staaten und den Balkanländern zum Ausbau einer „gemeinsamen Migrationssteuerung und des Grenzmanagements“.
  • Mai 2019: Kommissions-Stellungnahme zum Antrag Bosniens auf EU-Mitgliedschaft. Die EU-Kommission verlangt die Umsetzung von 14 Schlüsselprioritäten. Bosnien müsse, so eine Priorität, eine „wirksame Koordinierung der Kapazitäten für das Grenz- und Migrationsmanagement“ gewährleisten, im Gegenzug erhalte das Land finanzielle Unterstützung.

2020

  • Juli 2020: Wiener Erklärung. Auf Initiative Österreichs beschließen EU-Innenminister auf einer „Westbalkankonferenz“ mit dem bosnischen Sicherheitsministerium und der bosnischen Grenzpolizei, FRONTEX und ICMPD die Bildung einer „Plattform gegen illegale Migration“ (Operational Platform – Eastern Mediterranean Route, später bekannt als Joint Coordination Platform, kurz JCP) mit dem Sitz in Wien. Österreich sagte operativ Personal und Bürokapazitäten zu. ICMPD ist auf der Konferenz durch Michael Spindelegger vertreten, FRONTEX durch dessen stellvertretenden Direktor Berndt Körner, der später zum Leiter der Plattform ernannt wird, und die EU-Kommission durch Olivér Várhelyi, der in der Folge EU-Gelder für das Gefängnis lukriert.
  • September 2020: Die österreichische Polizei weist rechtswidrig sieben Schutzsuchende (drei davon minderjährig) gewaltsam nach Slowenien zurück, die innerhalb von 48 Stunden mittels Kettenabschiebung über Kroatien nach Bosnien deportiert werden. Medien berichten in den Folgemonaten über Dutzende weitere Fälle, das Innenministerium dementiert. Das Landesverwaltungsgericht Steiermark urteilte im Juli 2021, dass die Europäische Menschenrechtskonvention verletzt worden sei und illegale Pushbacks „teilweise methodisch Anwendung“ finden. Die Höchstinstanz, der Verwaltungsgerichtshof, bestätigt die Entscheidung im Juni 2022. An der Praxis der österreichischen Polizei ändert sich nichts. [2]
  • Dezember 2020: Lipa steht in Flammen. Geflüchtete sollen das Lager aus Verzweiflung angezündet haben. Der Brand und der Wiederaufbau des Lagers geben eine Gelegenheit für die Institutionalisierung der Wiener Erklärung und dem Aufbau von „Kapazitäten für Rückführungen“.

2021

  • März 2021: Das Hilfswerk beginnt in Bosnien ein einjähriges vom österreichischen Innenministerium und Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) finanziertes Projekt zur „Eindämmung irregulärer Migration in die EU“.
  • April 2021: Rückführungsplan. ICMPD organisiert in Sarajevo eine Konferenz zur „östlichen Mittelmeerroute“ unter Anwesenheit des bosnischen Sicherheitsministers Cikotić. Eine Woche später unterzeichnet dieser mit Österreichs Innenminister Nehammer eine Absichtserklärung zur Deportation von Flüchtenden, im Gegenzug soll Lipa mit einer halben Million Euro aus Österreich wiederaufgebaut werden. Eine breite Allianz aus NGOS, darunter die Plattform für eine menschliche Asylpolitik, kritisiert das Vorhaben vehement.
  • Mai 2021: Ministerkonferenz. EU-Innenminister, ICMPD, IOM und FRONTEX treffen sich in Portugal mit Ministern aus Afrika zum „Management der Migrationsströme“. Oberösterreichs ÖVP-Landeshauptmann Thomas Stelzer lässt über das Hilfswerk die Wasserversorgung im Gesamtlager Lipa bauen.
  • Juni 2021: Erklärung von Prag. Auf der Ministerkonferenz der von Österreich 2001 initiierten Sicherheitspartnerschaft „Forum Salzburg“ beschließen EU-Innenminister, JCP, FRONTEX, ICMPD und IOM, bezugnehmend auf die Wiener Erklärung, politische Richtlinien für die JCP, um die Kooperation „zur Eindämmung irregulärer Migration zu verstärken“. Kurz darauf weist diese österreichische Polizei erneut einen Geflüchteten illegal nach Slowenien zurück. Wiederum wird Österreich vom Verwaltungsgericht verurteilt und bekräftigt, dass auch in Österreich illegale Pushbacks „teilweise methodisch Anwendung finden“. Erneut keine Konsequenzen.
  • September 2021: Medieninszenierung am Balkan. Innenminister Nehammer kündigt auf einer Reise am Balkan eine von der Plattform gegen illegale Migration ausgerichtete „Rückführungskonferenz“ an. Zeitgleich geht Lipa zum zweiten Mal in Flammen auf, die Menschen sind verzweifelt.
  • Oktober 2021: Erklärung von Brdo und Vienna Migration Conference. Die EU-Spitzen würdigen am EU-Westbalkan-Gipfel „die anhaltenden Anstrengungen unserer Partner“ am Balkan im „Migrationsmanagement“. Kurz darauf eröffnen ÖVP-Innenminister Nehammer und Spindelegger in Wien die „Vienna Migration Conference“ des ICMPD. Mit dabei der bosnische Sicherheitsminister Cikotić.
  • November 2021: Sarajevo Migration Dialogue. Auf der von Hilfswerk und bosnischem Sicherheitsministerium organisierten Konferenz beraten österreichisches Innenministerium (vertreten durch den Leiter der Sektion „Fremdenwesen“, Peter Webinger), bosnisches Sicherheitsministerium, bosnische Grenzpolizei und JCP (Berndt Körner) über das regionale Grenz- und Migrationsmanagement, insbesondere einen Rückkehrmechanismus in Bosnien. Zeitgleich wird das neu aufgebaute Lager in Lipa, auf dem das Logo des österreichischen Innenministeriums prangt, eröffnet. Das umzäunte und zutrittsgesicherte Lager wirkt damals bereits wie ein Gefängnis.
  • Dezember 2021: ÖVP-Krise. Sebastian Kurz stürzt, Nehammer wird Kanzler, Gerhard Karner übernimmt das ÖVP-Innenministerium.

2022

  • Februar 2022: Rückführungskonferenz in Wien. Formale Gründung der Joint Coordination Platform (JCP) mit IOM, FRONTEX und ICMPD (vormals Plattform gegen illegale Migration). Der ehemalige FRONTEX-Leiter Berndt Körner wird Präsident. Auf einer gemeinsamen Abschlusspressekonferenz mit dem bosnischen Sicherheitsminister Cikotić und EU-Kommissar Várhelyi kündigt Innenminister Karner „einen regionalen Rückführungsmechanismus“ an. Várhelyi erklärt, dass man mit der „massiven Erhöhung der Unterstützung im Bereich der Rückführungen“ in der Höhe von 355 Millionen Euro „mit IOM, ICMPD und FRONTEX“ zusammenarbeite.
  • Juni 2022: Auf die Präsentation der Plattform in Wien folgt eine administrative Umsetzungskonferenz in Ljubljana, organisiert vom österreichischen und slowenischen Innenministerium und Hilfswerk, zusammen mit IOM und ICMPD.
  • August 2022: Polizeitreffen zwischen Österreich und Bosnien. Hochrangige Beamte aus dem bosnischen und österreichischen Innenministerium (unter anderem wieder mit „Fremdenwesen“-Leiter Webinger) treffen sich in Wien im Rahmen der JCP, man gratulierte Bosnien demonstrativ für Rückführung „illegaler Migranten“ nach Pakistan.
  • September 2022: Baubeginn Haftzellen Lipa und zweiter Sarajevo Migration Dialogue. Österreichisches Innenministerium, ICMPD, bosnische Behörden, Hilfswerk und der EU-Botschafter für Bosnien- und Herzegowina, Johann Sattler, besprechen den „Kampf gegen illegale Migration“ und weitere Rückführungen. Zur gleichen Zeit beginnt ICMPD laut eigenen Aussagen mit dem Bau des Abschiebe-Gefängnisses innerhalb des bereits eingezäunten Hauptlagers in Lipa.
  • Oktober 2022: Konferenz und ICMPD-5-Jahresplan. Innenminister Karner eröffnet in Wien „Vienna Migration Conference“ des ICMPD und trifft bosnischen Sicherheitsminister Cikotić. Dieser bespricht am gleichen Tag mit Spindelegger bevorstehende Rückführungen, die von ICMPD „in nächster Zeit durchgeführt werden“. Die EU-Kommission empfiehlt auf Betreiben Österreichs den Beitrittskandidaten-Status für Bosnien, sollte unter anderem das „Migrationsmanagement“ umgesetzt werden. Kurz darauf unterzeichnet das ICMPD mit dem bosnischen Sicherheitsministerium und JCP einen „Fünf-Jahresplan“ zur „Rückführung von Migranten“. Medien berichten zur selben Zeit über Enthüllungen zu gewaltsamen Pushbacks und Folter durch die kroatische Grenzpolizei.
  • November 2022: Das bosnisches Sicherheitsministerium unterzeichnet in Sarajevo mit IOM ein Abkommen zur „freiwilligen und zwangsweisen Rückkehr“ unter Beisein von EU-Kommissar Olivér Várhelyi. Dieser verkündet bei der „Unterschriftenzeremonie“ ein 500.000 Euro schweres Pilotprojekt mit Bosnien und IOM zur „freiwilligen und zwangsweisen Rückkehr“ und weitere 500.000 Euro für ein Pilotprojekt „Hafteinrichtung“ zur zwangsweisen Rückführung von „Asylbetrügern“ in Lipa.
  • Dezember 2022: Erklärung von Tirana. Die EU-Regierungsspitzen beschließen mit Bosnien und anderen Balkan-Staaten „verstärkt Rückführungen aus dem Westbalkan in die Herkunftsländer durchzuführen“. Die EU-Kommission verabschiedet einen „Aktionsplan für den Westbalkan“, der sich explizit auf das „Pilotprojekt mit IOM“ mit FRONTEX-Unterstützung bezieht und die „Entwicklung angemessener Rückführungseinrichtungen“ fordert, und verspricht dafür weitere Finanzmittel aus dem EU-Fonds Instrument für Heranführungshilfe (IPA).

2023

  • Jänner 2022: Bau des Gefängnisses in Lipa laut ICMPD abgeschlossen.
  • März 2022: Hochrangiges Polizeitreffen zwischen Bosnien und Kroatien. Die Führung des bosnischen Geheimdienstes, Grenzpolizei sowie Generaldirektion der kroatischen Polizei, Leitung der Grenzpolizei und Kriminalpolizei beraten die Umsetzung eines Abkommens zwischen Kroatien und Bosnien und die Organisation gemeinsamer Grenzpatrouillen. Kurz darauf treffen sich hochrangige Beamte des österreichischen Innenministeriums mit dem bosnischen Sicherheitsministerium in Wien, man bedankte sich bei Bosnien für die „Zwangsrückführung illegaler Einwanderer nach Pakistan, Marokko und Bangladesch“. Menschenrechtsorganisationen berichten über vermehrte Massenabschiebungen aus Kroatien nach Bosnien.
  • April 2022: ICMPD muss auf öffentlichen Druck hin Bau des Abschiebe-Gefängnisses in Lipa zugeben, nachdem man zunächst dementiert hatte. Weitere Dokumente kommen ans Licht, welche die Verwicklung höchster Kreise aus Politik und Polizei in illegale Pushbacks von Kroatien nach Bosnien belegen. Vermehrt bringen Polizeibusse hunderte zurückgeschobene Menschen aus Kroatien nach Lipa. Der EU-Botschafter in Bosnien, Johann Sattler, bestätigt, dass die EU das Abschiebegefängnis finanziert hat und dort Menschen zur zwangsweisen Rückführung bis zu 72 Stunden interniert werden, bevor sie „in das Asylzentrum im Osten von Sarajevo transportiert werden“.

David Albrich ist Koordinator der Plattform für eine menschliche Asylpolitik. Er war im März 2021 kurz nach dem Brand mit Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger und einer Delegation der Omas gegen Rechts auf Einladung der Menschenrechtsorganisation SOS Balkanroute für einen Lokalaugenschein in Lipa.

[1] Die österreichische Staatspolitik folgt hier grundsätzlich einer langfristigen Strategie, die zurück auf das Forum Salzburg im Jahr 2001 geht, wie Klaudia Wieser (Universität Wien) und Nidžara Ahmetašević (Journalistin in Sarajevo) in der Studie „At the heart of Fortress Europe: A new study about Austria’s role in border externalization policies in the Balkans“ zeigen.

[2] Aufgedeckt wurden die gesetzwidrigen Pushbacks aus Österreich von der Initiative Push-Back Austria zusammen mit der Asylkoordination Österreich. Im „Black Book of Pushbacks. Expanded & Updated Edition“ (2022) hat das das Border Violence Monitoring Network (BVMN) auf mehr als 3.000 Seiten 25.000 gewaltsame Pushbacks entlang der Balkanroute dokumentiert.

Protest gegen Abschiebung von Haslacher Familie vor Abschiebezentrum Zinnergasse

Mit Angehörigen, Freund:innen und Solidarischen protestierten wir heute vor dem Abschiebezentrum Zinnergasse in Wien gegen die Abschiebung von Familie Lopez aus Haslach an der Mühl in Oberösterreich. Wir danken allen, die bei Kälte und Regen stundenlang vor dem Polizeizentrum ausgeharrt und ein Zeichen für Menschlichkeit gesetzt haben. Unser Respekt und Mitgefühl gilt insbesondere jenen, die den langen Weg auf sich genommen haben und aus Haslach angereist sind.

Leider wurde die Familie, versteckt vor uns und den zahlreichen Kameras vor Ort, klammheimlich zum Flughafen Wien-Schwechat gebracht. Wir sind noch immer über die Niederträchtigkeit des Innenministers schockiert. Er hätte ein humanitäres Bleiberecht vergeben können, tat dies aber offenbar aus politischen Gründen nicht. Es ist gewissen Parteien in Österreich wichtiger, zu spalten und Niedertracht zu säen, anstatt Gemeinschaft und Solidarität zu leben.

Die Abschiebung um jeden Preis soll die Zivilgesellschaft entmutigen. Doch sie wird das Gegenteil bewirken. Wir lassen uns nicht entmutigen und bereiten uns auf die nächsten Aktionen und Proteste vor. Wir stehen auf und sind laut, egal wo Ungerechtigkeit passiert. Wenn ihr unsere Arbeit weiter unterstützen wollt, könnt ihr das mit einer Spende tun und euch bei uns Sticker, Plakate, Buttons bestellen. Wir kämpfen umso stärker für eine menschliche Asylpolitik.  

Spontandemo vor Zinnergasse: Bleiberecht für Familie Lopez!

🕓 Donnerstag, 13. März 2023, 16:00 Uhr
📍 Abschiebezentrum Zinnergasse 29a (erreichbar über U3 Zippererstraße und Bus 76A nach Albern, Haltestelle Freudenauer Hafenbrücke)

Familie Lopez aus Haslach an der Mühl in Oberösterreich darf nicht abgeschoben werden. Die Plattform für eine menschliche Asylpolitik organisiert heute Donnerstag um 16:00 Uhr eine Spontandemo vor dem Abschiebezentrum Zinnergasse 29a (erreichbar über U3 Simmering und Bus 76A nach Albern, Haltestelle Freudenauer Hafenbrücke). Wir wollen die Abschiebung der Familie verhindern!

Mutter Emilia arbeitet als Köchin im Gastgewerbe und engagiert sich freiwillig als Mesnerin in der Kirche. Tochter Joia ist in Ausbildung zur Altenpflegerin. Sohn Joshua spielt Fußball beim SV Haslach, ist in der letzten Stufe der Pflichtschule und wollte im Herbst an einer berufsbildenden Schule beginnen. Wir appellieren an die Verantwortungsträger:innen, der Familie ein Bleiberecht zu ermöglichen!

ÖVP-nahes Institut lügt: ICMPD baute Gefängnis in Lipa

Foto: BMEIA / CC BY 2.0 AT

Das ÖVP-nahe „Migrationszentrum“ ICMPD behauptete, dass es im bosnischen Lipa „selbstverständlich nicht am Bau von Haftzellen oder Ähnlichem beteiligt“ sei. Der NGO SOS Balkanroute liegen nun gleich mehrere Beweise vor, die das Institut der Lüge überführen. Das Hochsicherheitsgefängnis für schutzsuchende Menschen wurde von Wien aus geplant und errichtet.

Alle in Bosnien involvierten Parteien nennen  das ICMPD als Bauherr des Skandal-Gefängnisses in Lipa. Das bosnische Fremdenamt erklärte in einer Stellungnahme, dass die „Einheiten zum Festhalten von Migranten“ über „den Implementationspartner ICMPD realisiert“ werde. Man soll sich betreffend des Bauprojekts der Baugenehmigungen „an den Implementationspartner ICMPD“ wenden.

Die EU-Delegation in Bosnien-Herzegowina bestätigt gegenüber dem CNN-Tochtersender N1 ebenfalls, dass die Bauarbeiten am Gefängnis „von ICMPD geleitet“ werden. Der Bürgermeister von Bihac, Elvedin Sedić beklagte nach einer Regierungssitzung, dass die Stadt niemals eine Baugenehmigung erteilt habe. Die Gefängniszellen, die meterhohen Zäune, die Kameraübwachung – alles wurde illegal gebaut.

Im Gefängnis sollen Menschen, die von der kroatischen Polizei geprügelt, gefoltert und per illegalem „Pushback“ über die Grenze geschleppt wurden, inhaftiert werden. Der Premierminister des Kantons Una-Sana, Mustafa Ružnić, bekräftigte auf Al Jazeera Balkans, dass das ICMPD die „Haftanstalt gebaut hat – ohne Genehmigungen, ohne Projektdokumentation, ohne die Baubestimmungen zu befolgen“.

„Alle Beweise liegen am Tisch“, sagt Petar Rosandić, Obmann von SOS Balkanroute. Er fordert von den hiesigen Medien, dass sie das Thema endlich ernst nehmen. Das ICMPD und das ÖVP-Innenministerium, dass das „Migrationszentrum“ mit mindestens drei Millionen Euro gesponsort hat, können nicht mehr abstreiten, dass sie in den Bau des Gefängnisses führend involviert sind.

Schläge, Folter, nun auch Gefängnisbau: ÖVP zündelt wie k.u.k.-Kolonialmacht am Balkan

Foto: SOS Balkanroute

Hunderte Menschen werden derzeit von Kroatien aus illegal in das Flüchtlingslager Lipa in Bosnien deportiert (höchste Stellen sind involviert, wir haben berichtet). Dort errichtet die österreichische Regierung in alter kolonialer Manier über Unterhändler ein Gefangenenlager, in dem diese Menschen zur völligen Demütigung konzentriert werden sollen. Das österreichische Innenministerium ist der führende Treiber dieser systematischen Aushebelung der Menschenrechte auf europäischem Boden.

Das Haftlager in Lipa erinnert an ein Hochsicherheitsgefängnis für Schwerverbrecher, wie neue Bilder von SOS Balkanroute dokumentieren: meterhohe und doppelte Zäune, schwere Scheinwerferanlagen, totale Kameraüberwachung, eiskalte Containerzellen mit Gitterfenstern. Nachdem Menschen das Asylrecht verweigert wurde und sie nachweislich von der kroatischen Grenzpolizei mit Schlägen, Raub und Nahrungsentzug gefoltert wurden (Kanzler lobte den Grenzschutz), sollen sie hier interniert werden.

Das Gefängnislager wurde über Umwege, die die Spur verwischen sollen, vom österreichischen Innenministerium und der Regierung gebaut. Das Ministerium bezahlte die ÖVP-nahe Organisation International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) mit mindestens drei Millionen Euro. Diese hat das Gefängnis erbauen lassen. Die Infrastruktur des Gesamtlagers wurde vom ÖVP-geführten Land Oberösterreich und dem Innenministerium finanziert (wird haben berichtet).

Die ÖVP und der österreichische Staat führen sich wie die alte k.u.k.-Kolonialmacht auf. Sie betrachten den „Balkan“ immer noch als Stück Land, über das sie frei verfügen und Gesetze umgehen können. Für das Gefängnis machte man sich nicht einmal die Mühe, bei den Behörden eine Baugenehmigung einzuholen. Am Lager prangt das Wappen des österreichischen Innenministeriums. Österreichische Grenzpolizei ist inzwischen fixer Bestandteil in Ungarn, Serbien und Nordmazedonien geworden.

Das Lager der institutionalisierten Menschenrechtsbrüche in Lipa geht uns alle an. Menschen werden vor unseren Augen ihrer fundamentalen Rechte und Würde beraubt, während Kapital und fossile Brennstoffe frei fließen sollen (in Kroatien werden auf Initiative Österreichs im gleichen Atemzug klimaschädliche Flüssiggasterminals ausgebaut). Österreich forciert das rassistische und imperialistische System, das wir nur als starke Zivilgesellschaft brechen können. Das Gefängnis Lipa muss abgerissen werden.

Neue Pushback-Chats bringen Kanzler in Erklärungsnot

Screenshots: Lighthouse Reports

Neue Chatprotokolle belegen die schweren Vorwürfe, die wir seit Jahren gegen Bundeskanzler Karl Nehammer, das österreichische Innenministerium und die offizielle Politik in Kroatien erheben. Chatverläufe in einer inoffiziellen Polizei-Whatsappgruppe „Operation Korridor West“ mit 30 kroatischen Polizist:innen, dem Chef der Grenzpolizei sowie der Leiterin der Öffentlichkeitsarbeit im Innenministerium belegen, wie die höchsten Stellen systematische „Pushbacks“ von schutzsuchenden Menschen an der Grenze zu Bosnien abnicken. Die „Einzelfall“-Ausrede ist widerlegt.

Die Recherchen von Lighthouse Reports, ORF, Spiegel und kroatischen Medien dokumentieren, wie die Polizeiführung und Stabsstellen im Innenministerium über massenhafte, gewaltsame, illegale Zurückweisungen informiert werden. Die geteilten Bilder zeigen dutzende geflüchtete Menschen, wie sie gezwungen werden, bei winterlichen Verhältnissen ohne Schuhe am Bauch am Waldboden zu liegen. Erst im Oktober dokumentierte ein Rechercheverbund, dass Menschen mit Schlagstöcken über die Grenze nach Bosnien geprügelt werden.

Nach der Veröffentlichung der Recherchen im Herbst lobte Bundeskanzler Karl Nehammer (im Zuge der Debatte um die Aufnahme Kroatiens in den Schengenraum) demonstrativ die Behörden: „Aus Kroatien spüren wir kaum einen Migrationsdruck in den Norden. Da Kroatien den Grenzschutz vorbildlich (sic!) erfüllt, sehe ich da kein Problem.“ Geflüchteten die Menschenrechte und letzte Würde mit Prügel zu rauben, ist nicht „vorbildlich“. Wir erwarten uns von Nehammer eine scharfe Verurteilung und ein sofortiges Ende der illegalen Praxis der Pushbacks.

ÖVP lässt illegales Abschiebegefängnis in Bosnien bauen

Foto: Hasan Ulukisa / / hasan-ulukisa.at

Die ÖVP lässt in Bosnien ein illegales Massen-Abschiebegefängnis errichten. Unter dem Deckmantel „Hilfe vor Ort“ wird das abgeschottete Flüchtlingslager Lipa zum Gefangenenlager umgebaut, berichtet SOS Balkanroute unter Berufung auf den bosnischen Fernsehsender USK TV. Das bosnische Fremdenamt bestätigt die Errichtung eines Abschiebezentrums mit eigenen Gefängniseinheiten, das vom ÖVP-nahen österreichischen „Migrationszentrum“ ICMPD realisiert wird.

In den vergangenen Tagen hat die kroatische Grenzpolizei unter Zwangsmaßnahmen bereits hunderte Menschen, denen das Recht auf Stellung eines Asylantrags auf EU-Boden verweigert wurde, in Bussen illegal nach Lipa in Bosnien deportieren lassen. Diese sogenannten „Massen-Pushbacks“ geschehen dabei mit vollem Wissen der Europäischen Union (EU) und offenbar auch Österreichs. Das bosnische Fremdenamt beruft sich auf Vereinbarungen mit der EU und Institutionen in Österreich.

Über 1,1 Millionen Euro an österreichischem Steuergeld sind bereits über das Innenministerium und das Land Oberösterreich, beide ÖVP-geführt, in die Infrastruktur des Gesamtlagers geflossen. Die neuen Internierungszellen werden jetzt vom International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) realisiert. Das ICMPD wird vom ehemaligen ÖVP-Kanzler Michael Spindelegger geleitet und erhielt bislang drei Millionen Euro Steuergeld aus dem ÖVP-Innenministerium.

„Wir fürchteten damals bereits, dass Lipa in eine Haftanstalt für illegale Abschiebungen umgebaut werden könnte“, sagt David Albrich, Koordinator der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, der das Lager kurz nach dem Brand mit Volkshilfe-Direktor Erich Fenninger besuchte. „Die Finanzierung von Strukturen, die die Menschenrechte untergaben, muss sofort beendet werden. Unsere Solidarität gilt den Menschen, die von dieser unmenschlichen Politik gedemütigt und geprügelt werden.“

Say it loud! – Eine laute Zivilgesellschaft in einem Zeitalter der Katastrophen

Foto: Jakob Alexander

David Albrich und Judith Ranftler, Mitglieder der Kerngruppe der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, ordnen im Buch Say it loud! Beiträge zu aktuellen Fragen der Flüchtlingspolitik die Dimensionen der aktuellen Mehrfachkrise des Kapitalismus ein und plädieren für einen inhaltlichen Austausch unterschiedlicher Zugänge, um die solidarische Zivilgesellschaft insgesamt zu stärken.

Wir leben in Österreich eine ungemein aktive und lebendige Zivilgesellschaft, die selbstbewusst für Demokratie, Menschlichkeit und die Bewahrung unseres Ökosystems kämpft. Eine Zivilgesellschaft, die sich nicht zum Schweigen bringen lässt, sich mutig an vorherrschenden Meinungen und Regierungspolitiken reibt, auch unangenehme Wahrheiten ausspricht und Lösungen vorschlägt. Wir versuchen in Zeiten gewaltiger globaler Herausforderungen unermüdlich Ungerechtigkeiten zu bekämpfen und damit Verhältnisse aufzubereiten, unter denen eine solidarische Welt ohne wirtschaftliche Ungleichheiten, Krieg, Unterdrückung und Umweltzerstörung erst möglich wird.

Oft fehlt es in der Hitze des Gefechts, beim Lauf von einem Protest zum nächsten, angesichts einer schieren Flut an Krisen und einer Überwältigung an politischen Handlungen von Regierenden, die uns erschöpfen und demoralisieren können, an Zeit und Räumen, in denen wir uns inhaltlich austauschen und von einander lernen, Strategien und Taktiken entwickeln und neue Kraft für kommende Kämpfe schöpfen können. Oft wird die „Wissenschaft“ als eine außenstehende Kommentatorin der Ereignisse, ohne echte Verbundenheit mit den Bewegungen der Zivilgesellschaft, wahrgenommen. Aus diesen Überlegungen heraus entstand 2020 in Kooperation mit der Grünen Bildungswerkstatt Wien und der Volkshilfe Österreich die Gesprächsreihe „Say it loud!“.

Aktivist:innen, Vertreter:innen aus der Wissenschaft und Betroffene als Expert:innen ihrer eigenen Situation sollten auf einer gemeinsamen Plattform in Dialog treten, unterschiedliche Standpunkte ausrollen und Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Bislang konnten insgesamt fünf Gespräche aufgezeichnet werden:

Etwas haben wir aus diesen Runden jedenfalls mitgenommen: Die inhaltliche Auseinandersetzung hat zu einer Verbindung der Gesprächspartner:innen beigetragen und das gegenseitige Verständnis von Betroffenen, Expert:innen und Aktivist:innen bereichert. Wir sind überzeugt davon, dass auf dieser die einzelnen Disziplinen und Schwerpunkte übergreifenden Basis politische Forderungen entwickelt werden können und müssen, um gesellschaftliche Verbesserungen einzufordern und umzusetzen.

Zeitalter der Katastrophen

Im Zentrum der sozialen Bewegungen steht das Bedürfnis vieler, die Vereinzelungen zu überwinden und die Kräfte der Zivilgesellschaft zu einer mächtigen Bewegung zu bündeln, um eine globale Trendwende einzuläuten. Wir würden sogar sagen, dass die Stärkung unserer Schlagkraft spätestens im Angesicht der multiplen Krisen des 21. Jahrhunderts eine Notwendigkeit und Priorität geworden ist, von der letztendlich unser Überleben auf dem Planeten abhängt. Wir leben in einem neuen Zeitalter der Katastrophen1, einer Ära massiver ökologischer, wirtschaftlicher, geopolitischer, politischer und ideologischer Verwerfungen, in der Verzweiflung und Hoffnung oft nahe beieinander liegen. Insofern scheint es sinnvoll, einen Rahmen abzustecken, der die Orientierung in diesen schwierigen Zeiten erleichtert.

Die ökologische Dimension der Krise ist das drängendste Problem unserer Zeit. Sturzfluten, Überschwemmungen und Hochwasser, Dürre und Hitzewellen führen uns auch hierzulande vor Augen, wie dramatisch sich das globale Klima inzwischen aufgrund der menschengemachten Treibhausgasemissionen verändert hat. Wetterextreme nehmen an Häufigkeit zu und treiben schon jetzt hunderttausende Menschen in die Flucht. Andreas Weber und Sarah Nash behandeln diese Auswirkungen ausführlich in ihren Beiträgen. Der fossile Kapitalismus, die primäre Energiegewinnung aus Kohle, Erdöl und Erdgas, droht der Menschheit den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Das immer stärkere Vordringen der industriellen Landwirtschaft in bislang vom Menschen im Wesentlichen unberührte Gegenden bringt ganze Ökosysteme zum Kippen und erhöht die Übertragungswahrscheinlichkeit pathogener Viren wie im Fall von COVID19.

Die wirtschaftliche Dimension der Krise des globalen Kapitalismus verstärkt unmittelbar weltweite Migrationsbewegungen. Wiederkehrende Nahrungsmittelkrisen, hohe an den Ölpreis gekoppelte Getreidepreise und neoliberale Spekulationsgeschäfte inmitten eines sich verändernden Klimas und einer seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007–2009 dahindümpelnden Weltwirtschaft haben die globalen Ungleichheiten verschärft und Millionen Menschen auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit und Würde in Bewegung gesetzt. Perspektivenlosigkeit und Armut nehmen aber auch hierzulande insbesondere vor dem Hintergrund der massiven Teuerung zu, bereits sinkende Reallöhne werden von der Teuerung aufgefressen, Sozialmärkte bekommen immer mehr Zulauf.

In dieser äußerst angespannten Lage nehmen geopolitische Auseinandersetzungen um die weltweite Verteilung und Kontrolle von Profiten, Ressourcen und Märkten zu. Der brutale russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auf dramatische Weise das Bild eines scheinbar friedlichen Europas zerstört – ein Bild, das selbst so nicht ganz stimmte: Vielen ist etwa der blutige Bürgerkrieg am Balkan in den 1990er-Jahren noch schmerzlich in Erinnerung. Kriege sind plötzlich nicht mehr entfernte Schlachten im Irak, Jemen oder in Afghanistan (was sie für Geflüchtete und mit ihnen solidarische Menschen ohnehin nie waren). Mit einem Mal wird spätestens jetzt allen bewusst, dass Regierende, wenn es hart auf hart kommt, nicht vor brutalen unmenschlichen Maßnahmen zurückschrecken, anstatt die Probleme unserer Zeit ernsthaft anzupacken.

Die politische Dimension ist vor allem gekennzeichnet durch die Krise jener Parteien (im Westen vor allem sozialdemokratischer und konservativer Parteien), die die neoliberale Ausprägung des Wirtschaftssystems vertraten. Dadurch haben sich Räume für die Linke und die Rechte geöffnet, für Momente der Hoffnung wie der kometenhafte Aufstieg von Syriza in Griechenland oder die vielfältigen sozialen Bewegungen, aber auch die Monster unserer Zeit wie Donald Trump und Herbert Kickl. Durch das beständige Nachrücken der Parteien des Zentrums (und Teile der Linken) nach rechts äußert sich diese Krise vor allem in einem staatlichen Rechtsruck mit immer noch härteren Gesetzen und Maßnahmen gegen Geflüchtete und Muslim:innen. (Die Polizeiaktion „Operation Luxor“ gegen muslimische Aktivist:innen zählte sicher zu den traumatischsten Erlebnissen für die Betroffenen.)

Nirgendwo wird die ideologische Dimension der Krise deutlicher als an der Ungleichbehandlung von ukrainischen und anderen Geflüchteten. Doro Blancke, Stephan Handl, Susanne Scholl, Ronny Kokert und Petar Rosandić (bekannt als Rapper Kid Pex) legen in ihren Beiträgen den Finger in eine europäische Wunde: Sie zeigen auf, wie brutal, wie häufig, wie selbstverständlich Geflüchtete an den Außengrenzen entmenschlicht werden und ihnen das Recht auf Asyl abgesprochen und verwehrt wird. Doch nicht nur hunderte Kilometer entfernt von uns wird Recht gebrochen – unser Interview mit der Schülerin Tina, die 2021 abgeschoben wurde, zeigt nicht nur die menschliche Komponente auf – es wird deutlich, wie brutal unsere Rechtslage ist, sodass solche Handlungen möglich sind. Je tiefer die anderen Krisenmomente werden, desto stärker werden Regierende auch die Karte der Unterdrückung und des Rassismus ausspielen.

Rolle der Zivilgesellschaft

Demgegenüber stehen weltweit immer mehr Menschen auf und nehmen die Geschicke in die eigenen Hände. 2015 war nicht zufällig das Gründungsjahr der Plattform für eine menschliche Asylpolitik. Spätestens seit damals erleben wir in unterschiedlichen inhaltlichen Kontexten eine starke Verbündung der Zivilgesellschaft: der Sommer der Solidarität mit Geflüchteten, mit anhaltendem Austausch und Unterstützung, aber auch die Wucht der Black Lives Matter-Bewegung, Fridays For Future und Extinction Rebellion als eindrucksvolle Bewegungen, die uns alle mitreißen, um hoffentlich doch noch eine Kehrtwende in der Klimafrage und einen weltweiten Linksruck zu erreichen.

Die Diskussionen über Asylpolitik, Antirassismus und Menschenrechte sollten vertieft, verschiedene Positionen zusammengeführt und ein Beitrag zu strategischen Überlegungen abseits des engen Korsetts der etablierten Politik geleistet werden – hin zu einem Aufbruch der Zivilgesellschaft und einer solidarischen Zukunft für alle. Dieses Buch ist ein weiterer Baustein, um die Themen der Gesprächsreihe mit Beiträgen von Teilnehmer:innen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.

Ob uns dieses Vorhaben, die Zivilgesellschaft in Österreich strategisch zu stärken, in den Gesprächen und mit diesem Buch gelungen ist, mögen unsere Unterstützer:innen und Leser:innen beurteilen.

  1. Eine Anspielung auf Eric Hobsbawm, der die Ära vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 als „Zeitalter der Katastrophen“ charakterisierte. Siehe: Eric Hobsbawm, Das kurze 20. Jahrhundert: Das Zeitalter der Extreme [1995] (Darmstadt, 2019)

Das Buch, herausgegeben von der Grünen Bildungswerkstatt Wien und der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, ist kostenlos erhältlich.