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Kinderabschiebungen: „Es braucht mehr Menschlichkeit in den Gesetzen!“

Tierra Rigby (Klassensprecherin in der HLW10) und Theo Haas (Schulsprecher der Stubenbastei). Foto: Volkshilfe Österreich

Die Abschiebung von Tina aus dem Gymnasium in der Wiener Stubenbastei und Sona aus der Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe am Reumannplatz (HLW10) sorgte österreichweit für eine Welle der Entrüstung. Wir haben mit dem Schulsprecher der Stubenbastei, Theo Haas, und der Klassensprecherin von Sona in der HLW10, Tierra Rigby, gesprochen. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass aus der Wut über die täglich stattfindenden Kinderabschiebungen eine mächtige Bewegung wurde.

Say it loud!: Theo und Tierra, euch ist in den letzten Wochen ein lauter Aufschrei gegen Abschiebungen gelungen. Was hat sich für euch dadurch verändert? Gab es ein davor und danach? 

Tierra: Mir wurde klar, wie viele Abschiebungen eigentlich passieren. Die meisten Menschen werden aus Österreich nicht in ferne Staaten abgeschoben, wie man annehmen könnte, sondern in EU-Länder wie die Slowakei, Ungarn, Rumänien oder Serbien. Das ist mir erst jetzt bewusst geworden. Mein Alltag hat sich aber auch in eine andere Richtung stark über das Erleben von Zusammenhalt und Gemeinschaft verändert.

Theo: Die Jugendlichen sind an meiner und wahrscheinlich auch an Tierras Schule viel politischer geworden (Tierra nickt zustimmend). Ich habe auch erleben dürfen, dass es einer so kleinen Gruppe möglich ist, immer größer zu werden und eine echte Bewegung zu werden. Das kann wirklich schnell gehen!

Tierra: Ja, und Social Media hat uns dabei enorm geholfen. Innerhalb von nur wenigen Stunden konnten wir die Anliegen unglaublich weit verbreiten.

Hattet ihr vorher das Gefühl, dass sich nie etwas verändern wird? 

Tierra: Ich war schon sehr überrascht, auch über das Engagement meiner Klasse. Wir dachten am Anfang, dass wir es vielleicht schaffen, ein paar hundert Unterschriften zu sammeln. Und dann wurde es auf einmal richtig groß! 

Theo: Ja, ich kann Tierra nur zustimmen. Ich habe die Petition für Tina unterschrieben, da hatte sie gerade einmal 18 Unterschriften. Bei über 3.000 waren wir dann schon richtig glücklich. Und dann waren es in Kürze über 40.000! Es hat mich so gefreut, wie schnell sich alles verbreitet hat. Auch wie selbstverständlich sich alle Seiten in der Schule solidarisiert haben: Der Elternverein, viele Lehrerinnen und Lehrer, die Direktion und viele Schülerinnen und Schüler die gesagt haben: Wir möchten nicht in einem Land leben, wo die Abschiebung von Kindern und Jugendlichen auf der Tagesordnung steht.

Hab ihr vorher schon im Freundeskreis oder in der Schule über Asylthemen diskutiert?

Tierra: In Geografie sprechen wir öfter über die Situation von Flüchtlingen. Aber auch unter Freunden war zum Beispiel Moria ein Thema. Vieles bekommt man über Social Media mit und natürlich sprechen wir dann darüber – aber sicherlich nicht so viel, wie jetzt.

Theo: Ich rede viel mit meinen Freundinnen und Freunden über Tagespolitik. Besonders viel habe ich in den letzten Jahren über die Abschiebungen von Lehrlingen diskutiert, selbstverständlich auch über den Brand in Moria. Ich habe das Glück in einer Nachbarschaft zu wohnen, in der sich viele Menschen sehr engagieren. Viele meiner Freunde sind selbst Syrer und Iraker. Daher wurde mir schon früh klar, dass in der Asylpolitik einiges sehr falsch läuft.

Viele kennen euch inzwischen und fragen sich, wie sie euch unterstützen können.

Tierra: Man kann über die Volkshilfe Österreich und Volkshilfe Wien, über Theos Schule (stubenbastei.at) und über den Elternverein meiner Schule spenden, um die Anwälte zu bezahlen und um Tina, Sona und ihren Familien die Rückkehr nach Österreich zu ermöglichen. Jedenfalls hilft es, unsere Anliegen weiterhin zu verbreiten und auf Demos zu gehen.

Theo: Der gesellschaftspolitische Diskurs, der angestoßen wurde, muss aufrecht bleiben. Wir müssen den Druck erhöhen. Denn es geht schließlich nicht um Einzelfälle, sondern um ein System, das wir gemeinsam bekämpfen müssen. Die Petition von SOS Mitmensch zur bedingungslosen Einbürgerung von hier geborenen Kindern ist eine Möglichkeit, die möglichst weite Verbreitung finden sollte.

Tierra: Auf keinen Fall aufhören zu kämpfen!

Habt ihr einen Ratschlag für andere Schülerinnen und Schüler? Was kann man tun, was hat bei euch in der Vorbereitung gut funktioniert? 

Theo: Grundsätzlich sollte man sich bewusst sein, dass man nicht alleine ist. Es gibt sehr viele Organisationen und Menschen, denen das Thema am Herzen liegt. Wenn man wie wir mit solchen Fällen konfrontiert ist, sollte man sich vernetzen, Öffentlichkeit schaffen und die Ungerechtigkeit des Systems insgesamt angehen. Wichtig ist, dass man sich bei der Pressearbeit Hilfe holt. Unsere Erfahrung zeigt, dass ohnehin sehr viele Menschen mithelfen wollen. 

Tierra: Wenn einem etwas wirklich wichtig ist, darf man niemals aufgeben. Man muss einfach weiterkämpfen und so viele wie möglich in die Bewegung hereinholen.

Wie hat diese Vernetzung in Zeiten der Pandemie funktioniert? Ihr konntet euch schließlich gar nicht in den Schulen selbst treffen.

Tierra: Unsere Lehrerin hat uns im Online-Unterricht gefragt, wo Sona ist, und wenige Stunden später musste sie uns mitteilen, dass sie abgeschoben wird. Daraufhin haben wir unmittelbar eine Teambesprechung gemacht, uns über Whatsapp zusammengetan und schnell über Social Media mit Postings und Stories für Aufmerksamkeit gesorgt. Wir haben unsere Eltern gebeten, die Beiträge zu teilen, um eine größere Reichweite zu bekommen.

Theo: Dazu kam noch, dass wir sehr viel telefoniert haben. Wir haben unzählige Organisationen, Journalistinnen und Journalisten angerufen, Medien kontaktiert, damit die Fälle möglichst publik werden. 

Was muss sich jetzt ändern? 

Tierra: Es braucht mehr Menschlichkeit in den Gesetzen. Integrierte Menschen dürfen nicht abgeschoben werden! 

Theo: Politikerinnen und Politiker, die die Macht hätten, etwas zu verändern, müssen endlich Initiative ergreifen und dafür sorgen, dass sich solche Fälle künftig nicht wiederholen. Wenn weiterhin Kinder abgeschoben werden, dann erfüllt die nun von der Regierung eingesetzte Kindeswohlkommission ihren Zweck nicht. Und unser größter Wunsch ist selbstverständlich, dass Sona, Tina und ihre Familien möglichst bald in ihr Heimatland Österreich zurückkehren können. Das ist unser großes Ziel, für das wir weiterhin kämpfen.

Das Interview führte David Albrich.

Das Say it loud!-Magazin erscheint vierteljährlich und ist auf Protesten, über Sammelbestellungen (Empfehlung für Initiativen und Organisationen) und als Einzelabo erhältlich.

Say it loud!-Gespräch #4: Schülerabschiebungen und humanitäres Bleiberecht

Schüler*innen fordern vor Anti-Rassismus-Demo am 20. März Rückholung abgeschobener Freund*innen

Die Abschiebung von Tina aus dem Gymnasium in der Wiener Stubenbastei und Sona aus der Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe am Reumannplatz (HLW10) sorgte für eine Welle der Entrüstung. Im vierten Say it loud!-Gespräch der Plattform für eine menschliche Asylpolitik haben wir mit den Schüler*innen Theo Haas, Tierra Rigby, Sihaam Abdillahi und Felix Niederhuber sowie Plattform-Sprecher Erich Fenninger über die Proteste gegen Abschiebungen aus der Zinnergasse, eine Reform des humanitären Bleiberechts und Abkehr von der bisherigen unmenschlichen Asylpolitik gesprochen.

Sihaam Abdillahi, Landesschulvertreterin in Wien und engagiert in der neugegründeten Initiative #jugendstehtauf, ist in der Zinnergasse aufwachsen. Sie erzählt, wie die Proteste dazu beigetragen haben, dass sie selbst über ihre Erfahrung mit dem „Gelben Haus“ (Abschiebegefängnis) in der Zinnergasse sprechen kann. „Ich wusste, dass ich mir dieses Thema wieder aneignen musste, weil es lange Zeit mit Wut, Leid und Trauer verbunden war. Jetzt fasse ich wieder Hoffnung.“ Darüber zu sprechen ist nicht selbstverständlich. Sihaam fordert mehr Repräsentation von Betroffenen und die Zurückholung der Familien.

Abschiebungen stoppen

Die Hoffnung war es auch, die Felix Niederhuber und seine Freund*innen geholfen hat, mit der „Mischung aus Unverständnis und extremer Wut“ bei den Protesten umzugehen. Felix hat Schulen gegen Abschiebungen ins Leben gerufen. Die Initiative konnte über 50 Schulen für einen offenen Brief an Innenminister und Regierung für eine stärkere Verankerung des Kindeswohls in den Gesetzen gewinnen. Wie auch den anderen ist ihm wichtig, jetzt nicht zur Tagesordnung überzugehen und sich nicht mit „Wischi-Waschi-Antworten“ von Politiker*innen abspeisen zu lassen.

Für Tierra Rigby aus der HLW10 war die Unmittelbarkeit ein großer Schock, weil „man das eigentlich nur aus Geschichten und Filmen kennt“. Ihre Freundin Sona wurde nach Armenien abgeschoben. Die unmenschlichen Zustände in der Zinnergasse findet Tierra schlimmer als in einem Gefängnis, „denn dort hat man wenigstens das Recht, eine Stunde pro Tag nach draußen zu gehen und die persönlichen Gegenstände bei sich zu haben.“ Nicht so in der Zinnergasse. Tierra wünscht sich ihre Freundin zurück, allerdings sei es erst dann ein Erfolg, wenn Abschiebungen grundsätzlich gestoppt werden.

Lösungen liegen am Tisch

Die Gesetze müssten geändert und Härtefallkommissionen eingesetzt werden, sagt Theo Haas, Schulsprecher im Stubenbastei-Gymnasium. Aus seiner Schule wurde Tina nach Georgien abgeschoben. Wichtig wäre auch, meint Theo, dass die Lehrpläne in den Schulen angepasst werden, damit die Themen Kindeswohl und Abschiebungen auch im Unterricht behandelt werden. „Veränderung ist wirklich, wirklich nötig!“, darauf besteht Theo. „Die Lösungen liegen eigentlich auf dem Tisch. Jetzt müssen nur die verantwortlichen Politiker*innen diese Veränderungen herbeiführen.“

Erich Fenninger, Sprecher der Plattform für eine menschliche Asylpolitik und Direktor der Volkshilfe Österreich, zieht den Schluss, dass die Menschen- und Kinderrechte immer wieder neu erkämpft werden müssen. Auch, weil rechte Parteien das Rad der Zeit wieder zurückdrehen wollen. Abschließend rief Erich zur Demo „Aufstehen gegen Rassismus“, organisiert von der Plattform für eine menschliche Asylpolitik, dem Black Voices Volksbegehren, #jugendstehtauf und Schulen gegen Abschiebungen am Samstag, 20. März in Wien auf.

Die Say it loud!-Gespräche werden von Judith Ranftler moderiert und von der Grünen Bildungswerkstatt Wien (GBW Wien) und der Volkshilfe Österreich unterstützt.

Katharina Stemberger: „Wir haben nicht mehr gemacht, als hinzuschauen“

Courage-Initiator*innen Ferry Maier (Menschen.Würde.Österreich), Judith Kohlenberger (Wirtschaftsuniversität Wien), Katharina Stemberger, Marcus Bachmann (Ärzte ohne Grenzen) und Stefan A. Sengl (The Skills Group). Foto: Courage

Die Initiative Courage – Mut zur Menschlichkeit fordert lautstark die Aufnahme von Geflüchteten aus den griechischen Elendslagern. Wir haben mit Schauspielerin Katharina Stemberger, einer der Gründer*innen von Courage, über den langen Sommer der Solidarität 2015, die Hilfsbereitschaft der österreichischen Zivilgesellschaft und die #WirHabenPlatz-Bewegung gesprochen.

Say it loud!: Sie haben kurz nach dem verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria die Initiative Courage – Mut zur Menschlichkeit gegründet. Was waren Ihre Beweggründe?

Angesichts der vermehrten Meldungen über Selbstmorde von Kindern und Jugendlichen im alten Lager „Moria 1“ und der katastrophalen Lage dort, wollten wir jenen Menschen in Österreich eine Stimme geben, die sich dem europäischen Gedanken entsprechend an einer Entlastung dieser Situation beteiligen wollten. Indem Österreich Menschen aufnimmt.

Sie waren auf Lesbos und haben mit den Menschen gesprochen. Wir kennen viele verzweifelte Fluchtgeschichten. Was macht den Menschen Mut, was gibt ihnen Hoffnung?

Das ist genau das Problem. Ein Vater hat mir erzählt, dass er sich und seiner Familie während der Flucht immer wieder gesagt hat, es sei zwar jetzt schlimm, aber wenn sie erst einmal Europa erreicht hätten, würden sie in Sicherheit, ohne Angst und gut versorgt sein. Das Arge für ihn war, dass er nach mehreren Monaten im Lager nicht mehr wusste, was er seiner Familie sagen soll.

Die Menschen hoffen einfach, dass sie irgendwann an Orte in Europa kommen, an denen sie tatsächlich menschenwürdig leben können. Alleine auf Lesbos sind über 3.000 Menschen, die bereits einen positiven Asylbescheid haben, die aber von dort nicht weggehen können, weil man sie daran hindert. Jene, die in Athen auf der Straße leben, bekommen keine Unterstützung. Sie schaffen es auch nicht über die Grenze.

Dabei gibt es so viele Initiativen wie die Seebrücke und viele andere, die sagen: Wir haben Platz. Im Oktober 2020 haben wir in einer ersten schnellen Rundfrage bei Caritas, Diakonie und Volkshilfe 3.000 Plätze für Menschen in Österreich zusammengetragen. Plätze, die sofort zur Verfügung stehen würden. Es geht um eine geordnete Rettung. Wie Bischof Hermann Glettler sagte: Wir werden es doch schaffen, 100 Familien aufzunehmen!

Sehen die Menschen in den Lagern, was wir, die solidarische Zivilgesellschaft, tun?

Das bekommen sie schon mit. Vor allem natürlich, was die NGOs vor Ort leisten. So wie die Initiative Home for All von Nikos und Katerina, die täglich 1.200 warme Mahlzeiten für die besonders Vulnerablen, die Alten und Schwachen, zubereiten. Das ist natürlich nur durch Spenden möglich. Aber vor allem sind die Menschen mit dem Überleben beschäftigt.

Wir erheben nun schon seit Monaten die Forderung, die Lager zu evakuieren.

Ja! Das ist auch die einzig sinnvolle menschliche Antwort.

Courage plakatierte auf der Wienzeile den „herzlosen Kanzler Kurz“, gezeichnet von Gerhard Haderer. Foto: Courage

Kanzler Sebastian Kurz behauptet aber, dass wir keine Menschen mehr aufnehmen können, weil wir die Vielen, die seit 2015 gekommen sind, erst „integrieren“ müssten. Wie steht es um die Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft hierzulande?

2015 haben die staatlichen Institutionen versagt. Es war ein Chaos. Deswegen haben manche sagen können: Wir werden überrollt. Man begann, vorgeblich irgendwelche „Routen“ zu schließen. Routen, die man nicht schließen kann. Auf der anderen Seite haben wir seit 1945 immer wieder große Fluchtbewegungen erlebt. Wir, die Zivilgesellschaft, haben diese immer gut gemeistert. Auch 2015 waren es wir, die eingesprungen sind.

Auch die Fakten sprechen für uns. Knapp die Hälfte aller anerkannten Flüchtlinge aus den Jahren 2015 und 2016 haben bereits einen Arbeitsplatz gefunden, zeigte ein Bericht des Arbeitsmarktservice (AMS) letzten Herbst. Also worüber reden wir hier? Darüber hinaus wird so vieles vermischt: Wir haben die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben und Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Terror flüchten müssen, haben Schutz zu bekommen und menschenwürdig untergebracht zu werden. Diese Standards werden in Griechenland leider nicht eingehalten.

Das Einzige, was wir als Courage machen, ist hinzuschauen. Und wir werden nicht aufhören, hinzuschauen.

Durch dieses Hinschauen haben Sie ein enormes Momentum erzeugt. Sogar der Bundespräsident hat betont, dass wir Platz für Schutzsuchende haben. Wie kann #WirHabenPlatz eine Bewegung bleiben?

Wir müssen dranbleiben und auf verschiedenen Ebenen arbeiten. Ich denke an Italien. Dort musste man auch sehr lange mit der Regierung verhandeln, damit diese endlich Menschen aus den Horrorlagern aufnimmt. Ich glaube fest daran, dass es möglich ist. Egal, ob ich mit Menschen aus der Zivilgesellschaft, mit Bürgermeister*innen oder Vertreter*innen aus Pfarren gesprochen habe. Sie alle sagen: Natürlich können wir nicht allen helfen. Aber wir können einen Beitrag leisten. Wir müssen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass diese „Hilfe vor Ort“, von der gerne gesprochen wird, schlicht nicht funktioniert und ankommt.

Herzlichen Dank, dass Sie in diesen kalten Zeiten die Menschlichkeit hochhalten.

Wir tun, was wir tun müssen. Damit werden wir uns zwar nicht immer Freunde machen. Aber es gibt auch keine Alternative.

Das Interview führte David Albrich.

Das Say it loud!-Magazin erscheint vierteljährlich und ist auf Protesten, über Sammelbestellungen (Empfehlung für Initiativen und Organisationen) und als Einzelabo erhältlich.

Vorsicht, Fake News: Nein, Kara Tepe wird nicht geschlossen!

Foto: Savvas Karmaniolas (Twitter), Faksimile: Salzburger Nachrichten

Achtung, auch in solidarischen Kreisen geht derzeit eine Falschmeldung der Salzburger Nachrichten um, wonach angeblich das Nachfolgelager des abgebrannten Moria auf der griechischen Insel Lesbos, Kara Tepe, geschlossen werden soll. Das ist eine Finte des griechischen Migrationsministers, der, wie die türkise ÖVP, immer mehr unter Druck gerät. Die Falschmeldung soll Aktivist_innen im Glauben lassen, dass man die unerträgliche Situation auf den Inseln scheinbar verbessere, und darüber hinwegtäuschen, dass tatsächlich noch schlimmere, von der EU sanktionierte Gefängnislager für Geflüchtete errichtet werden.  

von David Albrich

„Moria-Nachfolger sperrt zu“ titelte die Tageszeitung Salzburger Nachrichten in ihrer heutigen Ausgabe groß. Innerhalb der nächsten Wochen würde das griechische Flüchtlingslager Kara Tepe geschlossen werden, zitierte man, ohne zu hinterfragen oder tatsächlich mit Menschen vor Ort gesprochen zu haben, den griechischen Migrationsminister Notis Mitarakis. Die Aktivistin und freiwillige Helferin auf Lesbos, Doro Blancke, ist entsetzt und widerspricht vehement. „Im Lager Kara Tepe wird gerade in diesem Moment Strom verlegt und gebaut und gebaut. Hier wird überhaupt nichts geschlossen!“, sagt sie gegenüber der Plattform für eine menschliche Asylpolitik.

„Tatsächlich plant die Regierung ein weiteres Lager in einer völlig isolierten Gegend von Lesbos“, sagt Petros Constantinou, Koordinator des antirassistischen Bündnisses KEERFA in Griechenland. „Dieses Lager wird ein Gefängnis sein.“ Schutzsuchende Menschen sollen, so sieht es auch der von der EU-Kommission vorgeschlagene Migrationspakt vor, dauerhaft interniert werden. Und jene, die bereits einen positiven Asylbescheid bekommen haben, könnten demnächst von der griechischen Regierung einfach auf die Straße gesetzt werden, befürchtet die Helferin Helga Longin, „ohne Wohnung, ohne Job, ohne Sprachkurs, ohne einen Cent Unterstützung.“  

Kurz untersagte konkrete Hilfe

Die Weißwaschung der griechischen Regierung kommt der türkisen Regierungsspitze jedenfalls gerade gelegen. Denn es brodelt nicht nur wegen der zahlreichen Korruptionsaffären (es gilt die Unschuldsvermutung). Hinter den Kulissen wird auch die Kritik an der brutalen, menschenverachtenden Haltung von Bundeskanzlers Sebastian Kurz immer lauter. Ein Unmut, der sich gerade am Fall eines 12-jährigen Afghanen auf Lesbos entlädt. Fery Berger und sein Team engagierten sich in den letzten Wochen besonders für die Aufnahme des Jugendlichen, der an einem schmerzhaften Tumor auf seinem rechten Zeigefinger leidet, in Österreich.

„Ein Arzt wäre in Österreich bereit gewesen, ihn in seiner Klinik gratis zu operieren. Alle anderen Kosten für die Familie hätte die Solidarregion [Weiz] übernommen“, schreibt Berger auf Facebook. Mit dem Generalsekretär des Außenministeriums, Peter Launsky-Tieffenthal, und der österreichischen Botschafterin in Athen, Hermine Poppeller, war man bereits in gutem Einvernehmen. Alles war bereit, den Jungen nach Österreich zu bringen. Und dann das Nein des Bundeskanzlers. „Auch dieses Hilfsangebot wurde abgelehnt“, so Berger. Die Empörung über die Ablehnung, nachdem bereits alles organisiert war, ist riesig.

Wir bleiben standhaft!

Wir, die auf der Straße demonstrieren, Protest-Zeltlager errichten, Spenden sammeln, unsere Mitschüler_innen beschützen und unsere Türen für Geflüchtete in Pfarren und in Gemeinden öffnen, lassen uns von den Medien oder der Politik hier nichts vormachen. Und wir lassen uns auch das Helfen nicht verbieten. Wir bleiben standhaft! So lange, bis alle Lager wirklich geschlossen sind und bis alle Menschen, egal ob von den griechischen Inseln oder aus der unerträglichen Situation in Bosnien, aufgenommen wurden und ihnen die Chance auf ein gutes, sicheres Leben gegeben wird.

Jean Ziegler: „Abschiebungen nach Afghanistan sind ein Verstoß gegen die Menschenrechte“

Foto: Harald Bischoff

„Abschiebungen nach Afghanistan sind ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Sie müssen sofort gestoppt werden.“

Menschenrechtsaktivist Jean Ziegler, Mitglied im Menschenrechtsbeirat der UNO, übte schwere Kritik an der heutigen Sammelabschiebung nach Afghanistan im Rahmen der Initiative „Stop Deportations to Afghanistan“. Die Kampagne wurde von Doro Blancke ins Leben gerufen und wird von zahlreichen Persönlichkeiten und NGOs getragen, unter anderem Susanne Scholl, Heini Staudinger oder Manuel Rubey.

„Viele bestens integrierte junge Menschen sollen aus Österreich in das Hochrisikogebiet Afghanistan abgeschoben werden. Zu Ihrem und unserem Schaden!“, kritisierte Doro Blancke angesichts der Gefahr für die Menschen. „Das muss in Zukunft unbedingt verhindert werden!“ Spätestens nach der heute erneut mit absurder Brutalität durchgesetzten Abschiebung mit Panzer und Antiterror-Einheiten ist Innenminister Karl Nehammer rücktrittsreif.

Plattform-Sprecher Fenninger an Jugend: „Die Zukunft gehört euch und nicht den Abschiebern!“

„Die Menschen- und Kinderrechte sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind von uns hart erkämpft worden, gegen den Widerstand der Herrschenden, der Mächtigen, der Eliten und der rechten Parteien“, erinnerte Erich Fenninger, Sprecher der Plattform für eine menschliche Asylpolitik und Direktor der Volkshilfe Österreich, heute auf der Kundgebung „Bringt sie zurück!“ von der Initiative Hass ist nicht normal und Sozialistische Jugend Wien am Platz der Menschenrechte in Wien.

Diese Rechte müssen immer wieder verteidigt und neu erkämpft werden. „Euch gehört die Zukunft und das Land! Und nicht diesen Vollkoffern und Abschiebern von heute, die stolz auf ihre barbarische Unmenschlichkeit sind, um ihre persönliche Macht auf dieser zu begründen“, machte Fenninger den Teilnehmenden Mut, den Druck weiter zu erhöhen. Gefordert wurde die sofortige Rückholung der abgeschobenen Familien und eine Reform des humanitären Bleiberechts.

Holt alle Menschen aus Moria! Direktflug mit 116 Menschen von Lesbos nach Deutschland

Foto: UNHCR/Achilleas Zavallis

Ja, es ist eine geringe Zahl von 116 Menschen, die am Mittwoch per Direktflug von Lesbos nach Deutschland gebracht wurden. Für die Menschen, die endlich dem Schlamm und Dreck des Lagers Kara Tepe entkommen, ist es allerdings unzweifelhaft ein wichtiger Schritt in Richtung Sicherheit, Freiheit und Zukunft.

„Es kommen sicherlich Herausforderungen auf uns zu, aber wir sind stark. Wir sind endlich auf dem Weg in ein neues Leben“, sagte die jesidische Familie Haji gegenüber UNHCR, die nun endlich nach Deutschland weiter kann. Die Familie musste beinahe drei Jahre unter den entsetzlichsten Bedingungen auf Lesbos ausharren.

Die Aktion hat gezeigt: Es ist sogar in einer Pandemie ganz einfach möglich, schutzsuchenden Menschen eine sichere Fluchtroute zu schaffen. „Derartige nachhaltige Lösungen braucht es in größerer Zahl!“, fordert nun UNHCR Österreich-Chef Christoph Pinter. Eine Forderung, der wir uns selbstverständlich anschließen!

Wenn sogar die konservative deutsche Union aus CDU und CSU geflüchtete Menschen aufnehmen kann, muss auch die österreichische Regierung uns endlich erlauben, zu helfen. Wir sind bereit, wollen anpacken und machen weiter Druck, so wie beim inzwischen sechsten Wochenende für Moria im Sigmund-Freud-Park.

Kinderpsychologin auf Lesbos: „Wir pflastern Brandwunden, während Menschen im Feuer stehen“

Foto: innherred.no

Katrin Glatz-Brubakk arbeitet als Kinderpsychologin für Ärzte ohne Grenzen auf der griechischen Insel Lesbos. Im Interview mit dem ZDF schildert sie die katastrophale Situation für die Kinder im neuen Lager  Kara Tepe, das nach dem Brand von Moria errichtet wurde. Wir geben ihre dramatischen Schilderungen wider und fordern erneut und mit Nachdruck die sofortige Evakuierung der Lager und Aufnahme von Menschen in Österreich. Die Regierung muss uns endlich helfen lassen!

„Bei manchen Kindern führt das dazu, dass sie die Hoffnung ganz aufgeben. Sie ziehen sich zurück. Sie hören auf zu spielen. Und wenn sie nicht mehr spielen hört einfach die Entwicklung ganz auf. Es gibt Kinder, die haben seit acht Monaten kein einziges Wort gesprochen. Sie gehen nicht aus dem Zelt, sind total apathisch. Manche müssen gefüttert werden, weil sie einfach keine Kraft und Lebenslust mehr haben. Und bei manchen kommt es dazu, dass sie versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Manchmal hat man das Gefühl, dass man eine Brandwunde pflastert, während die Menschen immer noch im Feuer stehen. Dadurch, dass wir sie eigentlich jeden Tag wieder zurückschicken müssen in Bedingungen, die sie krank machen, das ist schon verzweifelnd. Und das begrenzt die Möglichkeit, wie viel wir machen können.

Wir versuchen, die Kraft, die sie einmal hatten, wieder hervorzuholen. Und wir reden auch von Träumen: Was sie einmal werden möchten, wie sie das früher in der Schule gemacht haben und dass sie das wieder machen können. Manche müssen wir einfach daran erinnern, dass keiner für ewig in Moria lebt, Gott sei Dank.

Was wir wissen, was traumatisierte Kinder brauchen, ist eben das Gefühl, dass ich jetzt sicher bin. Vorrausichtbarkeit. Struktur. Und all dieses gibt es in Moria überhaupt nicht. Bei Kleinkindern führt es dazu, dass sie manchmal anfangen, sich die Haare auszureißen, den Kopf gegen Fußboden oder Wand zu knallen, sich beißen bis sie bluten, weil sie einfach nicht wissen, wohin mit der Unruhe.

Der Teil des Gehirns, der für gute Entwicklung sorgt, dass man gute Entscheidungen treffen, lernen, gute Relationen bauen, sich beruhigen, Gefühle kontrollieren, sich konzentrieren kann – all diese Teile bekommen nicht genug Energie, um sich gesund zu entwickeln. Mit jedem Tag, den sie hier im Lager sind, wird der Schaden größer und die Probleme, die sie in der Zukunft haben werden. Das sind jetzt Narben, die nie wieder richtig heilen werden können.

Kinder erzählen uns, dass sie so wenig wie möglich essen und trinken, weil es ihnen ekelt, zur Toilette zu gehen. Im Dezember wurde auch ein kleines Mädchen von drei Jahren in der Toilette vergewaltigt und die Kinder fürchten sich natürlich, dass sie als nächstes dran sind.

Die Flüchtlinge dürfen jetzt nur drei Stunden Woche aus dem Lager raus. Das heißt, sie verbringen den ganzen Tag, die ganze Woche in den Zelten hinter Stacheldraht und mit Polizeibewachung.

Für die Menschen im Lager geht es nicht nur darum, wann ich nicht mehr zu Hause sitzen muss und zum Arbeiten und meine Kollegen treffen darf, sondern: Wann fängt mein Leben an? Gibt es für mich überhaupt noch eine Zukunft? Wann darf ich wieder zur Schule gehen? Wann darf ich lernen? Wann kann ich aus dem Zelt raus, ohne mich nachts fürchten zu müssen? Und wenn wir das schon merken, wie schwer das ist, mit dieser Unsicherheit zu leben, muss man sich einmal vorstellen, wie schwierig es für die Menschen ist, die im Lager leben.“

Spende für unsere politische Arbeit

Foto: Christopher Glanzl

Wir haben eine Bitte. Um unsere politische Arbeit ausbauen zu können, brauchen wir Geld. Wir bitten euch um eine Spende: IBAN: AT58 2011 1843 6694 6100, Inhaberin: Plattform für eine menschliche Asylpolitik.

Wir leben in politisch turbulenten Zeiten. Kinderabschiebungen. Menschen im Schlamm auf Lesbos. Geflüchtete im Schnee in Bosnien. Rassistische Polizeigewalt. Antimuslimischer Rassismus. Faschisten auf der Straße. Abschiebungen nach Afghanistan. Klima und Flucht. Wir sind überall aktiv.

Wir haben viel vor: Demo am 20. März. #SayItLoud!-Gespräche. Bündnisarbeit. Rechtlicher Beistand wegen unserer Demountersagung. Empowerment. Sticker, Flyer, Plakate. Ein neues Magazin. Recherchen und Dokumentation. Social Media-Arbeit. Neue Allianzen bilden.

Wenn ihr gut findet, was wir machen, unterstützt uns bitte mit einer Spende. Wenn viele einen kleinen Betrag beisteuern, können wir Großes bewirken. Die Welt hat es nötig. Wir sagen: Danke!

Abgeschobene Ana und Mariam: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“

Foto: Screenshot ORF

Die 14-jährige Ana und ihre Schwester Mariam wurden im November nach Georgien abgeschoben (wir haben berichtet). Drei Tage lang waren auch sie im Schubhaftzentrum Zinnergasse in Wien-Simmering interniert. Ein Trauma, von dem sie sich bis heute nicht erholt haben. Doch die beiden geben nicht auf und hoffen auf eine Rückkehr nach Österreich.

Gegenüber dem ORF erzählen sie jetzt, wie schwer sie es in Georgien haben. „Ich bin ja in Österreich geboren“, beginnt die jüngere Mariam. Ana erzählt, dass sie die georgische Sprache nicht sprechen können: „Nicht einmal meine Oma versteht mich.“ Die Schule in Tiflis können sie derzeit aufgrund des Distance Learning nicht besuchen. So müssten sie von zuhause aus lernen, sagt Ana, „was wir uns selber beibringen können“.

Als sie zwei Jahre alt war, kam Ana nach Österreich. Bis zuletzt ging sie in die Neue Mittelschule am Kinzerplatz in Wien-Floridsdorf. Schulleiter Werner Schuster setzt sich für die Familie ein und fragt: „Wie soll ich meinen Schülerinnen und Schülern begreiflich machen, dass sich Integration lohnt, wenn so gute integrierte Schülerinnen und Schüler abgeschoben werden?“

Für Rechtsanwalt Wilfried Embacher, der sich auch für die abgeschobene Tina engagiert, war die Abschiebung von Ana und Mariam ebenfalls rechtswidrig: „Die beiden Mädchen haben seit Jahren einen Anspruch auf einen Aufenthaltstitel. Diese Anträge wurden im Oktober 2020 gestellt und bis heute nicht erledigt.“ Er verlangt ein humanitäres Bleiberecht für die beiden.

Ana und Mariam bekommen viel Unterstützung von ihren Freundinnen und Freunden in Österreich. Bis zuletzt haben sie gehofft, dass sie bleiben können. Ihr ungebrochener Wille auf eine bessere Zukunft und auf eine Rückkehr nach Österreich gibt uns allen Kraft, weiter zu kämpfen. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagen die unglaublich mutigen Ana und Mariam. Wir stehen hinter euch.